Lexikalische Struktur der DGS

Bemerkung zur Repräsentation von Gebärden

Jede Gebärde bzw. Gebärdenform, die im GLex enthalten ist, hat von uns einen eindeutigen Namen erhalten, durch den diese Gebärde bzw. diese Gebärdenform repräsentiert wird. Ein solcher Name wird auch Glosse genannt und besteht im GLex aus einer Kombination von einem Wort (dem Glossennamen) und ggf. weiteren Elementen wie Kürzeln, Zahlen und Buchstaben. Glossen haben sich als praktisch erwiesen, um über Gebärden zu sprechen oder zu schreiben, auf Gebärden zu verweisen und Gebärden alphabetisch zu sortieren. In den Gebärdeneinträgen übernimmt die Glosse die Funktion des Lemmas. Darüber hinaus sind über die Zahlen und Buchstaben der Glossen einige Beziehungen zwischen verwandten Gebärdenformen kodiert. Um den folgenden Ausführungen folgen zu können reicht es jedoch aus, zu wissen, dass Glossen eindeutige Namen bzw. Etiketten für Gebärden sind, die jedoch nicht als Bedeutungsangabe oder Übersetzung der Gebärde missverstanden werden sollten. Genaueres zu den im GLex angewandten Transkriptionskonventionen und -verfahren finden sich im Kapitel Erläuterungen zur Transkription.

Neben der eindeutigen Benennung durch die Glosse werden die Gebärden in den Einträgen auch als Film dargestellt. Der Film zeigt, die genaue Ausführung des Handzeichens. Er repräsentiert das abstrakte sprachliche Zeichen mit allen seinen Verwendungsmöglichkeiten und nicht eine konkrete Gebärden-Mundbild-Kombination. Deshalb wurden die Filme der konventionellen Gebärden ohne Mundbild aufgenommen.

Aspekte der lexikalischen Analyse

In den Gebärdeneinträgen werden alle im Rahmen der Transkription und lexikalischen Analyse erarbeiteten Informationen zu den für das Lexikon ausgewählten Gebärden aufgeführt. Im Folgenden werden die verschiedenen Aspekte der Analyse dargestellt. In dieser Darstellung spiegelt sich unsere Sicht der Struktur des DGS-Wortschatzes wider.9Es ist uns bewusst, dass die Beschaffenheit des Datenmaterials sich auf die hier dargestellte Sichtweise ausgewirkt hat. Bei den in der Datenbank erfassten sprachlichen Äußerungen handelt es sich überwiegend um Antworten gehörloser Informanten auf einzeln abgefragte Fachbegriffe. Diese lautsprachlichen Fachbegriffe gehören in der Regel nicht zum Alltagswortschatz und sind häufig Komposita. Ihre gebärdensprachlichen Entsprechungen wurden in einer nicht alltäglichen Kommunikationssituation meist außerhalb eines Satzzusammenhangs geäußert. Daher finden sich in den erhobenen Daten z.B. überdurchschnittlich viele unübliche Mundbild-Gebärden-Kombinationen (Produktive Verwendungen konventioneller Gebärden) und nur relativ wenige syntaktisch motivierte räumliche Modifikationen von Gebärden.

Zunächst werden die verschieden Arten von Gebärden beschrieben. Dann werden die Bildhaftigkeit von Gebärden und ihre zentrale Bedeutung für die lexikalische Analyse eingehend erläutert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Zusammenspiel von Gebärde und Mundbild, das verschiedene Verwendungen konventioneller Gebärden ermöglicht. Weiterhin wird auf die Gebärdenraumnutzung und die Beziehungen zwischen Gebärden eingegangen.

Einteilung von Gebärden

Gebärden lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen. Die beiden größten Gruppen sind konventionelle und produktive Gebärden. Weitere Gebärdentypen sind u.a. Fingeralphabet und Initialisierung.

Konventionelle Gebärden

Konventionelle Gebärden sind Einheiten des Gebärdenschatzes (Lexikon), die relativ stabile Formen und festgelegte Bedeutungen haben bzw. mit einem bestimmten Bedeutungsbereich verbunden sind. Form und Bedeutung sind durch die in der Sprachgemeinschaft übliche Verwendung (Konvention) festgelegt. Konventionelle Gebärden sind für den Sprachbenutzer als fertige Einheiten verfügbar. Sie sind häufig, aber nicht notwendigerweise bildhaft (s. Bildhaftigkeit von Gebärden). Ein Beispiel für eine ikonische Gebärde ist ESSEN1B. Das zugrunde liegende Bild ist „etwas zu essen in den Mund stecken“. Ein Beispiel für eine nichtikonische Gebärde ist FUNKTION2.

Bei ikonischen konventionellen Gebärden sind die Gebärdenformen durch den häufigen Gebrauch manchmal stilisiert (z.B. durch verschliffene oder vereinfachte Bewegungen, verrutschte Ausführungsstellen, Anpassung der Handform der nichtdominanten Hand an die der dominanten Hand, Hinzufügung einer Wiederholung u.ä.). Solche Formveränderungen, die dazu führen, dass das Bild einer Gebärde weniger deutlich erkennbar ist oder verblasst, sind deshalb möglich, weil die Sprachbenutzer sowohl Form als auch Bedeutungen dieser Gebärden, die durch Konvention festgelegt sind, kennen. Normalerweise muss weder beim Identifizieren einer konventionellen Gebärde noch zur Erfassung ihrer Bedeutung auf das Bild zurückgegriffen werden, das ihrer Form zugrunde liegt.

Produktive Gebärden

Gebärdensprachliche Äußerungen bestehen nicht nur aus etablierten konventionellen Gebärden, sondern enthalten auch bildhafte Handzeichen, die spontan für den jeweiligen Äußerungskontext neu geschaffen werden. Diese Gebärden beruhen nicht auf einer durch Konvention festgelegten Form-Bedeutungs-Beziehung, sondern werden dazu benutzt, die gewünschten Informationen in Form von Bildern dem Gesprächspartner unmittelbar anschaulich zu machen und so direkt zu vermitteln. Solche Gebärden bezeichnen wir als produktive Gebärden.10In der Literatur wird diese Gruppe von Gebärden je nach theoretischem Hintergrund unterschiedlich benannt, z.B. Klassifikatorgebärden, Proformen oder polymorphemische Gebärden.

Mit produktiven Gebärden werden bestimmte Formen dargestellt, räumliche Verhältnisse verdeutlicht (z.B. die Orientierung und Anordnung von Personen oder Gegenständen im Raum und zueinander) und Bewegungsabläufe oder Handlungen demonstriert. Diese Art von Informationen kann auf eine analoge Weise anschaulich durch die Form des neu gebildeten Handzeichens übermittelt werden. Normalerweise ermöglichen der sprachliche und außersprachliche Kontext es, die dargestellten Gegenstände und Personen als solche zu identifizieren. Deshalb kann das anschauliche, für sich sprechende Bild im Äußerungskontext richtig interpretiert werden und transportiert die vom Sprecher intendierte Bedeutung effektiv. Zur Schaffung produktiver Gebärden bedient sich der Sprachbenutzer der weiter unten beschriebenen Bilderzeugungstechniken. Dabei stehen ihm bestimmte Handformen als Bausteine zur Erzeugung von Bildern zur Verfügung. Diese Handformen werden sprachspezifisch verwendet. Sie werden analog zum Gegenstand oder zur Situation, die dargestellt werden soll, im Gebärdenraum angeordnet oder bewegt. Die Handformen selbst haben aber nur eine relativ weit gefasste, allgemeine Bedeutung. So steht die Flachhand11Zur besseren Lesbarkeit haben wir einzelnen Handformen Namen gegeben. Einige dieser Bezeichnungen für Handformen haben wir Heßmann (2001, Bd. 1, 157ff.) entnommen, andere stammen von uns. häufig für einen flachen Gegenstand, eine begrenzte oder unbegrenzte Fläche, eine Oberfläche oder die zweidimensionale Ausdehnung eines Gegenstands. Diese abstrakte, allgemeine Bedeutung wird erst beim konkreten Gebrauch zu einer temporären Bedeutung für den jeweiligen Kontext spezifiziert. Beispielsweise kann die Flachhand in produktiven Gebärden je nach Kontext dazu verwendet werden, ein Blatt Papier, eine CD, eine Tischplatte, eine Fensterscheibe, einen See, ein Auto, eine Wand, einen Fuß oder den Fußboden darzustellen. Die kontextuelle Bedeutung einer produktiven Gebärde ist also wesentlich spezifischer als die Summe der allgemeinen Bedeutungen ihrer Bestandteile.12Vgl. Johnston/Schembri (1996, 8).

Das analoge Bildungsprinzip, das hauptsächlich bei der Anordnung und Bewegung der Hände im Raum zur Anwendung kommt, erlaubt es, auch geringe Unterschiede in der Form, Position oder Bewegung der dargestellten Gegenstände oder Personen im Bild entsprechend wiederzugeben. Mit den Händen können jedoch nicht alle Aspekte des Geschehens in der gleichen Genauigkeit wiedergegeben werden. Bei der Erzeugung von Bildern mithilfe produktiver Gebärden werden normalerweise die wesentlichen Aspekte aufgegriffen und abgebildet, während unwichtigere Details weggelassen werden. Deshalb wirken nicht nur die Bilder konventioneller, sondern auch die vieler produktiver Gebärden oft auf schematische Weise reduziert.13Vgl. Cogill-Koez (2000). Produktive Gebärden weisen somit bestimmte Eigenschaften auf: Sie sind immer ikonisch und meistens sehr konkret auf den Gegenstand oder Prozess bezogen, den sie darstellen. Die tatsächlichen, visuell-räumlichen Gegebenheiten dieses Gegenstands (Form, Lage, Anordnung, Bewegung) sind entscheidend für die Form der neu erzeugten Gebärde. Produktive Gebärden sind eingebettet in einen sie umgebenden Kontext aus konventionellen Gebärden und Mundbildern. Dabei übernehmen konventionelle Gebärden und Mundbilder meist die Benennung der Gegenstände, während produktive Gebärden Formen, räumliche Bezüge und zeitliche Abläufe unmittelbar verständlich abbilden.14Ebbinghaus und Heßmann (2000, 62) sprechen von den Funktionen Denotation und Anschauung: „In dem aufeinander abgestimmten Zusammenwirken von Denotation und Anschauung vereint Gebärdensprache zwei grundlegend verschiedene Darstellungsfunktionen. Realisiert werden diese von arbiträren und motivierten Zeichen, die in einem Geflecht vielfältiger kontextueller Beziehungen miteinander verbunden sind. Die anschaulichen Mittel gebärdensprachlicher Darstellung können sich ungezwungen entfalten, weil sie durch die mit ihnen vergesellschafteten denotativ eindeutigen Zeichen, seien diese nun Wörter oder Gebärden, vom Zwang der diskreten Bezeichnung befreit sind.“
Es liegt in der Natur der Sache, dass es in einem Fachlexikon vor allem um die Benennung von fachlichen Inhalten geht. Insofern sind die im GLex enthaltenen produktiven Gebärden nicht immer besonders typische Beispiele für produktive Gebärden. Da wir relativ kontextarm isolierte Begriffe abgefragt haben, wurde vor allem dann auf die Möglichkeiten zur Erzeugung produktiver Gebärden zurückgegriffen, wenn keine konventionelle Gebärde für diese Bedeutung bekannt war. Die meisten im GLex enthaltenen produktiven Gebärden wurden daher in Kombination mit einem Mundbild zum Zwecke der Benennung produziert, ohne eine ganz spezielle, konkrete Situation anschaulich darzustellen zu wollen. In manchen Fällen scheinen die produktiven Gebärden so etwas wie eine knappe inhaltliche Erklärung des Fachbegriffs darzustellen.
Da jede einzelne produktive Gebärde neu und spontan für den jeweiligen Kontext gebildet wird und nicht auf Konvention beruht, können produktive Gebärden nur im jeweiligen Kontext verstanden werden. Aus diesem Grund ist es bei produktiven Gebärden nicht sinnvoll, wie bei konventionellen Gebärden von Grundformen und Modifikationen bzw. Ausführungsvarianten zu sprechen.

Im GLex sind 219 Gebärden verzeichnet, die von den gehörlosen Mitarbeitern als produktiv eingestuft wurden. Häufig sind die Grenzen zwischen neu gebildeten produktiven Gebärden und produktiven Verwendungen konventioneller ikonischer Gebärden (Modifikationen und produktive Verwendungen) fließend. Ob ein konkretes Vorkommen als Modifikation oder produktive Verwendung einer konventionellen Gebärde aufgefasst oder als neu gebildete produktive Gebärde interpretiert wird, ist im Einzelfall abhängig von der Beschaffenheit des untersuchten Datenmaterials und der jeweiligen theoretischen Sichtweise. Im Zweifelsfall, wenn beide Möglichkeiten aufgrund der Gebärdenstruktur und des Bildes denkbar waren, haben wir für die Entscheidung die Umgebung einer Gebärde, d.h. schon vorhandene ähnliche bzw. verwandte Gebärden, mit einbezogen.

Sonstige Gebärden

Neben konventionellen und produktiven Gebärden gibt es noch weitere Gebärden, die besondere Eigenschaften aufweisen oder ganz spezielle Funktionen erfüllen und deshalb als eigenständige Gebärdentypen angesehen werden können. Im GLex sind dies Fingeralphabet und Initialisierung. Zu den zugehörigen Gebärdeneinträgen dieser Gebärden gelangt man über GLOSSEN: Sonstige Gebärden. Sie werden im Folgenden näher beschrieben.

Fingeralphabet
Film groß
Das in Deutschland übliche Fingeralphabet ist ein in sich geschlossenes System von Handzeichen, mit dessen Hilfe sich Wörter buchstabieren lassen. Es besteht aus einhändigen Handzeichen mit spezifischen Handformen und Handstellungen. Nur wenige Zeichen werden zusätzlich mit einer Bewegung ausgeführt (J, Z, Umlaute, CH, ß, Doppelbuchstaben). Die Hand wird beim Buchstabieren von Wörtern, dem sogenannten Fingern, in der Regel in Schulterhöhe und dem Zuhörer zugewandt gehalten. Die Handzeichen werden dabei nacheinander gebildet.

Das Fingeralphabet wird in der DGS vor allem zum Buchstabieren von Eigennamen, Fach- und Fremdwörtern benutzt, um diese bei ihrer erstmaligen Nennung in ein Gespräch einzuführen, die genaue Schreibweise mitzuteilen oder das dazugehörige Mundbild nachvollziehbar zu machen. Häufig wird in diesem Zusammenhang zusätzlich eine Gebärde für den Namen, das Fach- oder Fremdwort eingeführt oder für die Dauer des Äußerungsabschnitts festgelegt. Im weiteren Verlauf eines Gespräches wird dann diese eingeführte Gebärde in Kombination mit dem Mundbild verwendet, um auf den eingeführten Begriff oder Namen zu verweisen. Abkürzungen werden häufig gefingert und nur selten durch andere Gebärden ersetzt. Neben der Funktion, lautsprachliche Wörter zu buchstabieren, wird das Fingeralphabet auch spontan und produktiv zur Unterstützung des Ableseprozesses von Mundbildern verwendet. Das Ablesen des Mundbilds wird in solchen Fällen dadurch erleichtert, dass meist der Anfangsbuchstabe des abzulesenden Wortes allein visualisiert wird oder mit einer nachfolgenden Gebärde kombiniert auftritt. In diesem Fall stellt der Buchstabe eine Ergänzung bzw. Unterstützung zum Mundbild dar. Diese Technik kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn es keine allgemein bekannte konventionelle Gebärde für diesen Fachbegriff oder Namen gibt und sich dessen Bedeutung mithilfe einer produktiven Gebärde nicht gut darstellen lässt, z.B. weil es sich um einen abstrakten Begriff handelt.

Die im Lexikon vorkommenden Verwendungen des Fingeralphabets sind im Gebärdeneintrag der Glosse FINGERALPHABET aufgelistet, zu dem man über GLOSSEN: Sonstige Gebärden gelangen kann.

Die Handformen des Fingeralphabets spielen gelegentlich auch bei der Bildung von neuen Gebärden eine Rolle, z.B. indem sie in eine (oft schon vorhandene) Gebärdenform integriert werden und auf den Anfangsbuchstaben eines mit der Gebärde sehr stark assoziierten lautsprachlichen Worts (Mundbild) verweisen. Durch den Sprachgebrauch können diese Gebärden konventionalisiert werden (s. Konventionelle Gebärden). Das Lexikon enthält einige Beispiele für solche Gebärden, deren Handformen aus dem Fingeralphabet stammen: CHANCE, DEFINITION, RISIKO3.15Solche konventionellen Gebärden werden manchmal auch als initialisierte Gebärden bezeichnet, z.B. bei Johnston (1989, 19; dort: initialized sign) und Machabée/Dubuisson (1995). Im Gegensatz dazu verwenden wir den Begriff Initialisierung jedoch nur für produktiv gebildete, also nicht konventionelle Verwendungen von Fingeralphabet-Handformen in Kombination mit einer einfachen Bewegung. Die konventionelle Gebärde RISIKO3 zeigt, dass auch Initialisierungen mit einfachen Bewegungen lexikalisiert werden können.

Initialisierung

Ein Sonderfall der Verwendung des Fingeralphabets stellt die Initialisierung dar. Hierbei wird eine Fingeralphabet-Handform spontan und produktiv mit einer einfachen Bewegung (hin- und herschütteln oder kreisen, gerade Bewegung zur Seite oder nach unten) und einem Mundbild kombiniert, um einen bestimmten Begriff oder Namen zu bezeichnen. Die Handform entspricht dabei meist dem Anfangsbuchstaben des lautsprachlichen Worts und soll das Ablesen erleichtern. Wir sehen diese spontan neu gebildeten Gebärden als produktive Verwendung des Fingeralphabets an und bezeichnen sie als Initialisierung. Initialisierungen werden im Gebärdeneintrag der Glosse INITIALISIERUNG aufgeführt, zu dem man über GLOSSEN: Sonstige Gebärden gelangen kann. Ein Beispiel für eine Initialisierung ist die dritte im GLex aufgeführte DGS-Entsprechung für den Begriff Vitamine. Ebenso wie andere Fingeralphabetbuchstaben können auch Initialisierungen mit weiteren Gebärden kombiniert werden wie z.B. bei den beiden im GLex aufgeführten DGS-Entsprechungen von Testosteron. Im GLex kommen insgesamt fünf Initialisierungen vor.

Bildhaftigkeit von Gebärden

Handzeichen sind visuell wahrnehmbare Gebilde in Raum und Zeit und eignen sich aufgrund ihrer Formeigenschaften prinzipiell zur Darstellung von unbewegten und bewegten Bildern. Die meisten Gebärden sind bildhaft (ikonisch), das heißt, dass sich in ihrer Form Aspekte des Gemeinten wiederfinden bzw. ihre Form sich auf ein Bild zurückführen lässt, das in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit ihrer Bedeutung steht.

Die den Gebärden zugrunde liegenden Bilder spielen eine Rolle bei der Entstehung und der Verwendung von Gebärden. Bildhaftigkeit stellt eine Besonderheit des Lexikons von Gebärdensprachen dar. Im Unterschied zur Lautsprache ist neben Form und Bedeutung die Bildhaftigkeit von Gebärden das dritte wichtige Kriterium für deren lexikalische Analyse.

Bei der Bildung produktiver Gebärden ist Bildhaftigkeit grundlegend beteiligt, da es bei diesen Gebärden überwiegend um eine analoge Darstellung von Formen, räumlichen Verhältnissen und Bewegungen geht. Aber auch bei konventionellen Gebärden spielt Bildhaftigkeit häufig eine wichtige Rolle, z.B. bei Modifikationen (s. Grundform und Modifikation) und der Festlegung des Bedeutungsumfangs von konventionellen Gebärden. Im Folgenden gehen wir zunächst darauf ein, auf welche Weise in der DGS Bilder erzeugt werden können. Die Kenntnis dieser Bilderzeugungstechniken ist sowohl für die Benutzung des Lexikons, insbesondere für das Verständnis der Gebärdeneinträge, als auch für die Anwendung von Gebärden in einer Kommunikationssituation hilfreich.

Bilderzeugungstechniken

Es gibt in der DGS mehrere Techniken, mit Gebärden Bilder zu erzeugen.16Vgl. hierzu Mandel (1977), der sich ausführlich mit den verschiedenen Techniken der Bilderzeugung bei Gebärden der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL) beschäftigt. Für eine aktuellere Darstellung verschiedener Bilderzeugungstechniken s. Sutton-Spence/Woll (1999, 174ff.), für die DGS s. Langer (2005). Sie unterscheiden sich darin, welche Rolle die Hand im Bild übernimmt und welche Funktion der Bewegung bei der Bilderzeugung zukommt.

Substitutive Technik (Hand als Gegenstand)

Bei der substitutiven Technik17Die Bezeichnung substitutiv wurde von Mandel (1977, 65; dort: substitutive depiction) und Johnston/Schembri (1996, 4ff.; dort: substitutive handshapes) übernommen. stehen die Hände für Gegenstände oder Teile von Gegenständen. Häufig spiegelt dabei die Handform Formaspekte des jeweiligen Gegenstands wider. Mit dieser Darstellungstechnik ist es möglich, die Position und Lage eines Gegenstands im Raum, seine Anordnung zu anderen Objekten und seine Bewegungen direkt darzustellen. Dies geschieht oft in einem verkleinerten Maßstab im Gebärdenraum, der gleichsam als Bühne für diese dreidimensionale Darstellung verwendet wird. Die Bewegung beschränkt sich entweder auf ein deutliches Platzieren der Hand an der relevanten Stelle im Gebärdenraum bzw. im Verhältnis zur anderen Hand oder sie imitiert analog die Bewegungen des Gegenstands im und durch den Raum. Ersteres erzeugt ein unbewegtes Bild, letzteres ein bewegtes Bild.

Beispiele für Gebärden, deren Bilder auf der substitutiven Technik beruhen, sind: NETZ1B, BUCH, BRILLE1A, BRUSTWARZE1, FLIEGE, BANDSCHEIBENVORFALL, SCHLAFLOS, STRAHLUNG1.

Manipulative Technik (Hand als Hand)

Bei der manipulativen Technik18Die Bezeichnung manipulativ wird in Anlehnung an Johnston/Schembri (1996, 4ff.; dort: manipulator handshapes) verwendet. Wir fassen den Begriff manipulative Bilderzeugungstechnik jedoch enger als Johnston und Schembri, die auch Handformen skizzierender Gebärden zu den Manipulatoren zählen. ahmen die Hände die Formen, die Anordnung und die Bewegungen der Hände einer Person bei einer bestimmten Handlung mehr oder weniger detailgetreu nach. Oft, aber nicht immer, handelt es sich dabei um die Darstellung einer Interaktion mit Gegenständen.19Während in der gebärdensprachlinguistischen Forschungsliteratur meist nur Handformen produktiver Gebärden als Manipulatorhandformen bezeichnet werden, die einen Gegenstand festhalten und sich dabei seiner Form anpassen, zählen wir zur manipulativen Technik auch alle anderen Darstellungen der Tätigkeiten von Händen, unabhängig davon, ob dabei mit einem Gegenstand interagiert wird oder nicht, wie z.B. EINSCHÄTZEN, HUSTEN2 und ZITTERN1. In solchen Fällen werden Handformen gebildet, die zeigen oder andeuten, wie diese Gegenstände angefasst (Griffhandformen), berührt oder bedient werden. Dabei passen sich die Handformen meist an die Formen der Gegenstände an. Die Gegenstände selbst werden nicht dargestellt, sind aber im Bild durch die Form der Hand, die räumlichen Verhältnisse und die Bewegungen indirekt präsent. Sofern die dargestellte Tätigkeit eine Bewegung enthält, die imitiert wird, wird mit der manipulativen Technik ein bewegtes Bild erzeugt.

Beispiele für Gebärden, deren Bilder auf der manipulativen Technik beruhen, sind: TRINKEN1, SPRITZEN1, BRECHEN1, ABSTRICH2B, GEBEN1, HERZDRUCKMASSAGE, EINSCHÄTZEN, HUSTEN2, ZITTERN1.

Skizzierende Technik (Hand als Zeichenwerkzeug)

Bei der skizzierenden Technik20Die Begriffe Skizze bzw. skizzierende Gebärden wurden in Anlehnung an die englische Bezeichnung sketching in Mandel (1977, 67ff.) gewählt. Wie bei Mandel und im Gegensatz zu Johnston/Schembri (1996, 5 und 22; dort: tracing) wird das Skizzieren hier als eine eigene Bilderzeugungstechnik angesehen. Der entscheidende Unterschied zu den manipulativ dargestellten Bildern liegt in der Funktion der Bewegung bei der Bilderzeugung. Beim Skizzieren ist die Bewegung nicht Teil der Bedeutung. Nicht dass die Hand etwas zeichnet, sondern was sie zeichnet, ist von Bedeutung. Erst das vollendete Bild macht das Gemeinte sichtbar. werden Hände oder einzelne Finger dazu verwendet, mit ihrer Bewegung einen unbewegten Gegenstand mit seiner Form und räumlichen Ausdehnung in den Gebärdenraum zu zeichnen. Dazu können unterschiedliche Handformen verwendet werden, die bereits Formaspekte des gemeinten Gegenstands aufgreifen oder andeuten. Die Hände dienen als Werkzeuge, mit deren Hilfe durch die Bewegung eine ein-, zwei- oder dreidimensionale Spur erzeugt wird, die als vollendetes Gebilde Form, Position, Lage und Ausdehnung des gezeichneten Gegenstands repräsentieren kann. Da durch die Bewegung Formaspekte des skizzierten Gegenstands gezeichnet werden, können mit der skizzierenden Technik ausschließlich unbewegte Bilder erzeugt werden. Werden zwei Hände zum Skizzieren verwendet, beginnen oft beide Hände an einer Stelle und bewegen sich symmetrisch auseinander. In anderen Fällen bleibt eine Hand – meist die nichtdominante – am Ausgangspunkt einer Skizze stehen, während die andere Hand die zeichnende Bewegung ausführt. Skizzierende Gebärden nennen wir im Lexikon auch kurz Skizze.

Beispiele für Gebärden, deren Bilder auf der skizzierenden Technik beruhen, sind: DÜNN1, RECHTECK1, HAUS1A, KUGEL3, BRUSTWARZE2, RIPPE1, BRUST4, GEN, STATISTIK1A, WIRBELSÄULE3A.

Stempelnde Technik (Hand als Stempel)

Bei der stempelnden Technik21Die Bezeichnung stempelnde Technik wird hier in Anlehnung an Mandel (1977, 67ff.; dort: stamping) verwendet. wird die Hand dazu verwendet, mit einer kurzen, geraden Bewegung die Form eines unbewegten Gegenstands an einem bestimmten Ort im Gebärdenraum darzustellen, ähnlich wie ein Abdruck, den ein Stempel an einer bestimmten Stelle auf einem Schriftstück hinterlässt. Dabei greift die Handform in ihrer Kontaktstelle, mit der sie die Unterlage beim Stempeln tatsächlich oder imaginär berührt, die entsprechenden Formaspekte des Gegenstands oder seiner Bestandteile auf. Die durch Stempeln dargestellten Gegenstände oder Formen können im Gebärdenraum, am Körper oder auf der nichtdominanten Hand platziert werden.

Ein Beispiel für eine Gebärde, deren Bild auf der stempelnden Technik beruht, ist: PUNKTE1B.

Indizierende Technik (Hand als Wegweiser)

Bei der indizierenden Technik22Die Bezeichnung indizierende Technik wird hier in Anlehnung an Mandel (1977, 64; dort: indexical presentation) verwendet. wird die Hand dazu verwendet, den gemeinten realen oder imaginären Gegenstand zu identifizieren, indem sie entweder in dessen Richtung weist oder ihn sogar selbst berührt. Die Hand dient bei dieser Technik lediglich als Wegweiser oder Anzeiger, der den Blick und die Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung und auf den gemeinten Gegenstand lenkt. Die Hand stellt dabei nicht das Gemeinte selbst dar, sondern verweist lediglich darauf. Hierfür wird in der DGS eine kleine Anzahl bestimmter Handformen verwendet, am häufigsten Zeigehand, Mittelhand und Flachhand. Indexikalische Gebärden werden meist mit einer kleinen geraden Bewegung in Richtung des Gegenstands oder zum Kontakt mit dem Gegenstand ausgeführt. Bei den meisten indexikalischen Gebärden ist es unerheblich, ob diese Bewegung einfach oder wiederholt ausgeführt wird. Manchmal kann die Bewegung auch ganz wegfallen. Gebärden, die mit der indizierenden Technik erzeugt werden, bezeichnen wir auch abgekürzt als Index.

Beispiele für Gebärden, deren Bilder auf der indizierenden Technik beruhen, sind: AUGE, HERZ1B, LEBER1D, HAND1C, SÜDEN1, MITTE2B, AUFZÄHLEN1A.

Die indexikalische Bilderzeugungstechnik kommt auch noch in zwei erweiterten Formen vor, die wir bewegter Index und ausgedehnter Index nennen.

Beim bewegten Index zeigt die Hand auf einen bewegten Gegenstand und vollzieht mit ihrer Bewegung die Bewegungen des Gegenstands nach, indem sie die Strecke, die der Gegenstand durchläuft, andeutet wie z.B. bei KREISLAUF1A oder KOMMEN.

Beim ausgedehnten Index wird nicht nur auf einen Gegenstand gezeigt, sondern durch eine Bewegung gleichzeitig auch grob seine Ausdehnung angedeutet. Den ausgedehnten Index findet man oft bei Gegenständen, die größere Ausmaße haben, sich nicht an einer eng begrenzten Stelle befinden oder selbst Bestandteile oder Regionen eines größeren Gegenstands sind. Dies ist besonders häufig bei Gebärden der Fall, die den Körper als Modell nutzen, an dem durch Zeigen auf Körperteile oder Körperbereiche Bezug genommen wird. Dabei werden auch einige Handformen verwendet, die man sonst von skizzierenden Gebärden kennt (z.B. die Schnapshand) und die bei einfachen indexikalischen Gebärden nicht vorkommen. Der Übergang zur Gruppe der skizzierenden Gebärden, die am Körper ausgeführt werden, ist hier fließend. Oft lassen sich Gebärden, die durch eine Bewegung am entsprechenden Körperteil auf eine gemeinte Stelle oder Region zeigen und sie grob eingrenzen, entweder als ausgedehnter Index oder als Skizze interpretieren. In diesem Fällen haben wir uns für die Angabe der Interpretation entschieden, die uns im Vordergrund zu stehen schien, ohne die andere ebenfalls mögliche Interpretation zusätzlich anzugeben (wie z.B. bei KIEFER2, HIRN3A). Weitere Beispiele für Gebärden, deren Bilder auf einem Technik mit einem ausgedehnten Index beruhen, sind: BEREICH18, BRUST1, MUND1, HALS2A, SEHNE, MONAT1.

Maßanzeigende Technik (Hand als Begrenzungsanzeiger)

Bei der maßanzeigenden Technik23Die Bezeichnung maßanzeigende Technik wird hier in Anlehnung an Mandel (1977, 69f.; dort: measuring) verwendet. werden Hände oder einzelne Finger dazu verwendet, die Größe bzw. Ausdehnung eines Gegenstands anzuzeigen. Die Finger oder Hände werden dabei so zueinander oder zu einem anderen Bezugspunkt (z.B. dem Boden) in Beziehung gesetzt, dass hierdurch eine bestimmte Größe angedeutet wird. Hierzu werden nur einige wenige, relativ einfache Handformen verwendet, die keine Formaspekte des jeweiligen Gegenstands enthalten. Die Handform ist jedoch in der Regel an die Größe oder Ausdehnung des Gegenstands angepasst. Mit der Flachhand wird die Ausdehnung von großen, dreidimensionalen Gegenständen gezeigt, mit der Zeigehand oder kleinen C-Hand die Ausdehnung von kleinen, eher zwei- oder eindimensionalen Gegenständen.

Maßanzeigende Gebärden enthalten in vielen Fällen keine Bewegung oder nur eine kleine platzierende Bewegung (MASS1, MASS2, MASS22). Eine als groß empfundene Größe kann durch eine Bewegung von einem kleineren zu dem gemeinten großen Abstand angezeigt werden (LANG2, WEITSICHTIG1B). Eine als klein empfundene Größe kann durch eine Bewegung von einem größeren zu dem gemeinten kleinen Abstand angezeigt werden (MASS13, KLEIN1, KURZSICHTIG1B). Eine sich verändernde Größe kann durch eine entsprechende Bewegung dargestellt werden (WACHSEN2, ABNEHMEN2). Soll eine ungefähre Größe angedeutet oder auf eine variierende Größe bzw. einen ganzen Bereich oder ein Spektrum von Größen Bezug genommen werden, so kann dies durch eine Bewegung ausgedrückt werden, die die angezeigte Größe innerhalb des Spektrums variiert (MASS21).

Modell (Hand als Modell einer Hand)

In einigen zweihändigen Gebärden hat die nichtdominante Hand lediglich die Funktion, sich selbst als Körperteil zu repräsentieren, auf den beispielsweise gezeigt oder an dem etwas skizziert oder platziert wird. Damit stellt sie nichts anderes dar als einen Teil des Körpers, auf den man wie auf andere Körperteile auch in der Gebärdenform als Ausführungsstelle Bezug nehmen kann. Die Funktion der nichtdominanten Hand ist also lediglich, der Körperteil Hand zu sein, der zum Modell des menschlichen Körpers gehört, auf das mit einer Gebärde verwiesen wird. Auch wenn die (nichtdominante) Hand ebenso wie bei der manipulativen Technik hier für die menschliche Hand steht, unterscheiden wir diese beiden Techniken, weil die Funktion der Hand in diesem Fall eine andere Qualität hat. Beim Modell geht es nicht darum, dass die Hand irgendetwas tut, sondern nur, dass sie vorhanden ist und als Modell genutzt wird, auf das oder an dem man etwas zeigen kann. Oft kommt es dabei darauf an, dass nicht nur auf die Hand an sich, sondern auf einen bestimmten Teil der Hand (z.B. das Fingergelenk) Bezug genommen wird. Gebärden, bei denen diese Technik an der nichtdominanten Hand zum Einsatz kommt, sind vor allem indexikalische und skizzierende Gebärden wie FINGER, HAND1A, FINGERNAGEL1 und PROD.GICHT.

Darüber hinaus gibt es einige wenige einhändige Gebärden, bei denen auch die (dominante) Hand als Repräsentant oder Modell für sich selbst steht. Bei diesen Gebärden wird die Hand oder ein Finger als Beispiel oder Repräsentant des Gemeinten einfach hochgehalten und so präsentiert. Im GLex findet sich nur eine solche Gebärde: HAND2.

Kombination

Die einzelnen Bilderzeugungstechniken können innerhalb eines Handzeichens auch kombiniert auftreten, wenn bei der dominanten und der nichtdominanten Hand verschiedene Techniken zur Anwendung kommen.

Eine andere Art der Kombination tritt auf, wenn beispielsweise eine Hand mit ihrer Form und Position am Ende einer substitutiven oder skizzierenden Gebärde so lange gehalten wird, dass sie während der darauf folgenden Gebärde noch präsent ist und mit der nachfolgenden Gebärde auf sie Bezug genommen werden kann. Eine solche, während der Folgegebärde gehaltene Hand wird in der Gebärdensprachforschung oft nach dem englischen Ausdruck für „halten“ als Hold bezeichnet. In der Beschreibung einer Gebärde wird die Technik von einer solchen, aus der vorangegangenen Gebärde stammenden, gehaltenen Hand mit „Hold“ angegeben, unabhängig davon, welche Technik bei der Vorgängergebärde, die den Hold erzeugt, zur Anwendung gekommen ist. Beispiele für Gebärdenkombinationen mit Hold sind SPRITZEN18, STECHEN14A und AUSBREITEN26A. Die Techniken der beiden Hände innerhalb einer durch einen Hold entstandenen Gebärdenkombination können, aber müssen nicht verschieden sein.

Interpretation

Nicht in allen Fällen ist die Interpretation der eingesetzten Technik einer Gebärde eindeutig. Die Anwendung unterschiedlicher Techniken kann zu formgleichen Handzeichen führen. So kann beispielsweise die C-Hand sowohl substitutiv z.B. ein Glas darstellen als auch manipulativ eine Hand, die ein Glas hält. Wird die C-Hand kombiniert mit einer Abwärtsbewegung, so kann dieses Handzeichen entweder substitutiv darstellen, dass oder wo ein Glas steht, oder manipulativ darstellen, dass oder wo jemand ein Glas hinstellt. Allein anhand der Form lässt sich nicht immer entscheiden, auf welcher Technik eine bestimmte Gebärde beruht. Je nach Kontext kann ein solches Handzeichen entsprechend unterschiedlich interpretiert werden. Die Formen mancher Gebärden lassen sich daher sinnvoll und plausibel mit unterschiedlichen Bilderzeugungstechniken als Bild interpretieren und beschreiben. Im GLex sind bei einigen solcher Gebärden zwei Bildbeschreibungen mit unterschiedlichen Techniken aufgeführt (z.B. MACHEN1A, SCHNEIDEN1A, UNTER1A, HIRN2). In den meisten Fällen haben wir jedoch auch bei mehreren Interpretationsmöglichkeiten nur eine Bilderzeugungstechnik angegeben, und zwar die, die uns am passendsten oder hervorstechendsten erschien. Bei zweihändigen Gebärden, die an der nichtdominanten Hand ausgeführt werden, kann die nichtdominante Hand oft je nach Kontext ganz allgemein für nicht näher spezifizierte Gegenstände oder Körperteile (wie z.B. die Haut; Technik: Substitutor) oder auch spezifischer für die Körperstelle Hand (Technik: Modell) stehen (z.B. bei BEULE1, KLEBEN1, SCHNEIDEN1C). In diesen Fällen haben wir der allgemeineren Interpretation folgend meist nur die Technik Substitutor angegeben.

In einigen Fällen kann der nichtdominanten Hand keine eigene Technik zugeordnet werden. Manchmal wird das eigentliche Bild der Gebärde von der dominanten Hand dargestellt und die nichtdominante Hand wird nur in die Nähe der relevanten Ausführungsstelle gehalten, um die Aufmerksamkeit auf diesen Bereich zu lenken. Dies ist z.B. bei einigen Gebärden der Fall, bei denen Körperteile beispielhaft bewegt werden wie bei GELENK3B. Bei PROD.SCHLEUDERTRAUMA10 lenkt die dominante Hand die Aufmerksamkeit auf den Nacken, der ruckartig bewegt wird. In diesen Fällen steht bei der entsprechenden Hand anstelle einer Bilderzeugungstechnik die Angabe „Fokus“.

Die beschriebenen Bilderzeugungstechniken kommen bei der Bildung neuer Gebärden, insbesondere bei der Erzeugung produktiver Gebärden zum Einsatz.24Alle sechs beschriebenen Bilderzeugungstechniken können allein oder kombiniert produktiv eingesetzt werden, um neue Gebärdenzeichen zu bilden. Im GLex kommen bei den produktiven Gebärden für die dominante Hand vor allem die Bilderzeugungstechniken skizzierend (40 %;) und substitutiv (39 %;) vor gefolgt von indizierend (12 %;) und manipulativ (8 %). Der Anteil der maßanzeigenden und der stempelnden Technik ist im GLex zu vernachlässigen. 64 % aller produktiven Gebärden werden mit einem inhaltlich begründeten Bezug zu einem Körperteil ausgeführt. Diese Verteilung erklärt sich durch das Sachgebiet und kann daher nicht verallgemeinert oder auf andere Bereiche übertragen werden. Aber auch die Bilder vieler konventioneller Gebärden lassen sich auf diese Techniken zurückführen. Bei konventionellen Gebärden kommt es jedoch manchmal vor, dass das Bild der etablierten Gebärdenform weniger konkret und stimmig ist. Bei einigen Gebärden liegt eine einhändige Ausführung der Gebärde nahe, um das der Gebärde zugrunde liegende Bild zu visualisieren, dennoch wird die etablierte Form zweihändig ausgeführt wie z.B. bei GERICHT. Im Bild der Gebärde soll sicher nicht das Läuten zweier Handglocken dargestellt werden, sondern die zweite Hand ist wahrscheinlich durch Stilisierung symmetrisch zur nichtdominanten Hand ergänzt. In solchen Fällen steht anstelle einer Technikangabe bei der nichtdominanten Hand die Angabe „Stilisierung“.

Bei anderen konventionellen Gebärden, im GLex sind das rund 28 %, lässt sich mangels konkreter Bildhaftigkeit der Gebärde (z.B. als Folge von Stilisierung oder Deikonisierung) keine Bilderzeugungstechnik bestimmen. In diesen Fällen wird in den Gebärdeneinträgen auch keine Angabe zur Technik aufgeführt.

Verhältnis von Bild und Bedeutung bei produktiven Gebärden

Produktive Gebärden werden spontan für den jeweiligen Kontext neu geschaffen, um etwas anschaulich darzustellen. Dabei werden meist konkrete Gegenstände, Handlungen oder Gegebenheiten in der Gebärdenform aufgegriffen und mehr oder weniger konkret oder schematisch abgebildet. Durch den Bezug auf den konkreten Kontext sind bei produktiven Gebärden die den Gebärdenformen zugrunde liegenden Bilder besonders unmittelbar und deutlich und daher in der Regel auch gut zu interpretieren.

Bei der Abfragesituation in der Erhebung war, abgesehen von der isolierten Bedeutung in Form eines schriftlichen Stimulus und in einigen Fällen mit einer zusätzlichen Illustration, kein konkreter Kontext gegeben. Die meisten produktiven Gebärden, die im GLex enthalten sind, sind daher spontan gebildete Gebärden, die in Kombination mit dem entsprechenden Mundbild zur Benennung von Gegenständen und Sachverhalten verwendet wurden. In solchen Fällen stellt die produktive Gebärde meist einen typischen Vertreter des zu benennenden Gegenstands oder Sachverhalts dar.

Verhältnis von Bild und Bedeutung bei konventionellen Gebärden

Konventionelle Gebärden beruhen in ihrer Eigenschaft als sprachliche Zeichen in erster Linie auf einer durch Konvention festgelegten Beziehung zwischen ihrer Form und ihrer Bedeutung. Anhand ihrer Form, die sich aus Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung zusammensetzt, lässt sich eine konventionelle Gebärde identifizieren. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob dieser Form ein bestimmtes Bild zugrunde liegt oder um welches Bild es sich dabei handelt. Konventionelle Gebärden können ihre Funktion der Bedeutungsvermittlung deshalb auch ganz ohne erkennbares Bild erfüllen (wie z.B. FUNKTION2). Die meisten konventionellen Gebärden sind jedoch ikonisch. Die Konvention bestimmt nicht nur die Form, sondern auch, welches von mehreren möglichen Bildern für eine Bedeutung innerhalb einer Sprachgemeinschaft verwendet wird.25Bei der Gebärde für „Kirche“ wird in der DGS das spitze Dach einer Kirche oder eines Kirchturms dargestellt. In der Britischen Gebärdensprache wird dagegen das Läuten der Glocken durch Ziehen an einem Seil gezeigt (Brien 1993 Gebärdennummer 106). In beiden Gebärdensprachen finden sich unterschiedliche ikonische konventionelle Gebärden für die Bedeutung „Kirche“. Sie unterscheiden sich in ihrer Beziehung zwischen Bildung und Bedeutung und darin, welche Anteile der Bedeutung „Kirche“ als wesentliches bzw. augenfälliges Merkmal dargestellt werden und mit welcher Bilderzeugungstechnik dies geschieht.

Das Bild einer Gebärde stellt manchmal genau das (also z.B. den Gegenstand oder die Handlung) dar, was sie bedeutet wie z.B. bei BAUCHNABEL, BRILLE1A, ERBRECHEN1, GEBEN2. Oft zeigt das Bild einer Gebärde aber nicht unmittelbar die Beutung, sondern stattdessen etwas, das in einem mehr oder weniger direkten sachlichen Zusammenhang mit dieser Bedeutung steht oder auf übertragene oder assoziative Weise mit dem Gemeinten verbunden ist, also z.B. einen typischen Gegenstand oder eine typische Handlung aus dem semantischen Umfeld der eigentlichen Bedeutung. Das ist häufig dann der Fall, wenn sich die Bedeutung bildlich nicht direkt darstellen lässt, weil es sich dabei z.B. um etwas Abstraktes oder nicht Sichtbares handelt. Viele konventionelle Gebärden sind darüber hinaus polysem, d.h. sie sind für eine ganze Reihe miteinander verwandter oder voneinander abgeleiteter Bedeutungen etabliert. Bei polysemen Gebärden stellt das Bild der Gebärde häufig eine der Grundbedeutungen unmittelbar dar, während weitere Bedeutungen aus dem Umfeld dieser Kernbedeutung, sowie ggf. assoziative und übertragene Bedeutungen hinzukommen.

Einige Beispiele aus der DGS: Die Gebärde RING (Bild: einen Ring auf den Finger stecken) wird für die konventionellen Bedeutungen „Ring“, „heiraten“, „Ehe“ und „verheiratet“ verwendet. Die konventionelle Gebärde KREUZ2A (Bild: ein Kreuz) hat in der DGS nicht nur die Bedeutung „Kreuz“ sondern auch „Krankenhaus“, „Klinik“ und „Schweiz“. Die Gebärde SCHIESSEN (Bild: ein Gewehr abfeuern) kann für „Schuss“ und „schießen“, aber auch für „Ausschuss“ benutzt werden. KUGEL3 (Bild: kugelförmiger Gegenstand) ist unter anderem für die Bedeutungen „Kugel“, „Ball“, „Kohl“, „Erde“, „Globus“, „Welt“, „alles“, „allgemein“, „ganz“, „gesamt“, „komplex“ und „Menge“ etabliert.

An diesen Beispielen sieht man, dass das Bild einer Gebärde sehr viel konkreter oder allgemeiner sein kann als eine damit ausgedrückte Bedeutung (RING: Ring aufstecken vs. „heiraten“; KUGEL3: kugelförmiger Gegenstand vs. „Kohl“). Einige Gebärden haben konventionelle Bedeutungen, die keinen inhaltlichen Bezug zum zugrunde liegenden Bild aufweisen, sondern sich nur über die Assoziation mit bestimmten Mundbildern erklären lassen wie bei SCHIESSEN: Obwohl das im Bild dargestellte Abfeuern eines Gewehrs inhaltlich nichts mit einem Gremium von Leuten (Ausschuss) zu tun hat, handelt es sich um ein Bild, dessen konventionalisierte Verwendung sich über die Ähnlichkeit der Wörter schießen, Schuss und Ausschuss erklären lässt. Die Gebärde eignet sich daher als Ablesehilfe für das Mundbild 'ausschuss'. Über die Mundbilder haben deutsche Wörter somit manchmal auch einen Einfluss darauf, welches Bild bzw. welche Gebärde in der DGS-Sprachgemeinschaft für eine bestimmte Bedeutung etabliert wird. Auf diese Weise können lautsprachliche Polyseme und Homonyme dazu führen, dass sich in DGS für Bedeutungen gelegentlich auch Gebärden etablieren, deren Bilder in keinem inhaltlichen Bezug zu ihrer Bedeutung stehen.

Obwohl ein zugrunde liegendes Bild nicht notwendig ist, um eine konventionelle Gebärde zu identifizieren, spielt das Bild einer Gebärde bei ihren Modifikationsmöglichkeiten (s. Grundform und Modifikation) eine wichtige Rolle. Ikonische Gebärden lassen sich im Allgemeinen in ihrer Form für solche Bedeutungen modifizieren, bei denen eine gewünschte Bedeutungsveränderung durch eine entsprechende Veränderung des Bildes möglich ist.26Auf diesen Zusammenhang hat bereits Mandel (1977, 71ff.) hingewiesen. Die Gebärde KUGEL3 kann beispielsweise größer oder kleiner ausgeführt werden, um über große und kleine Bälle oder Kohlköpfe zu sprechen. Dabei greift man auf das der Gebärde zugrunde liegende Bild zurück und verändert es so, wie die Kommunikationsbedürfnisse es erfordern. Diesen Rückgriff auf das Bild einer Gebärde nennt man auch Reikonisierung, die entstehende abgewandelte Form bezeichnen wir als Modifikation einer Gebärde. Man muss das Bild einer Gebärde kennen, um zu wissen, ob und wie man die Gebärdenform modifizieren kann, um eine veränderte Bedeutung auszudrücken. Beispielsweise erlaubt die nur indirekte Beziehung zwischen dem Bild der Gebärde SCHIESSEN und ihrer Bedeutung „Ausschuss“ keine vergleichbare Modifikation wie bei KUGEL3. Zwar kann durch eine veränderte Ausführung der Gebärde dargestellt werden, wie ein besonders großes oder kleines Gewehr gehalten und abgefeuert wird, aber diese Veränderung des Bildes lässt sich nicht auf eine entsprechende Bedeutungserweiterung von „Ausschuss“ (im Sinne von großer oder kleiner Ausschuss) übertragen. Obwohl SCHIESSEN eine ikonische Gebärde ist, kann sie für die Bedeutung „Ausschuss“ nicht modifiziert werden.

Stilisierung

Manchmal wird das zugrunde liegende Bild einer ikonischen Gebärde sehr realistisch oder detailgenau dargestellt. Dies ist in erster Linie bei produktiven Gebärden der Fall, insbesondere bei Gebärden, die Handlungen nachahmen (manipulative Technik). Sehr viel häufiger als eine möglichst realistische Darstellung ist jedoch eine schematisierte oder stilisierte Darstellung. Da sich konventionelle ikonische Gebärden mit der Zeit durch den häufigen Gebrauch verändern können, treten Stilisierungen vor allem bei konventionellen Gebärden auf. Zu solchen Stilisierungsprozessen gehören z.B. die Ersetzung einer Handform durch eine einfachere oder markiertere Handform, die Anpassung der Handform der nichtdominanten Hand an die dominante Hand, das Hinzunehmen oder Weglassen der zweiten Hand (SITZEN1A), Verschleifungen von komplexen Bewegungen zu einfachen Bewegungen, zusätzliche, einfache Bewegungsmuster z.B. Wiederholungen oder Drehbewegungen (wie bei RUND14A), die Übertragung von Kopf- und Körperbewegungen auf die Hände und die Verschiebung von ursprünglich ikonisch motivierten Ausführungsstellen.27Zu Stilisierungen insbesondere in der Amerikanischen Gebärdensprache s. Frishberg (1975). Bei einer Stilisierung wird die Gebärdenform – oft zugunsten eines schneller und bequemer auszuführenden Bewegungsablaufs – auf einige wenige markante Formaspekte reduziert. Durch diese Veränderungen wird nicht nur die Form, sondern auch die Darstellung des zugrunde liegende Bildes häufig vereinfacht, stärker abstrahiert und weniger konkret. Dies kann entweder dazu führen, dass relevante Aspekte stärker hervortreten, oder auch dazu, dass der Bezug der Gebärdenform zum zugrunde liegenden Bild verdunkelt wird oder ganz verloren geht.

Bildbestandteile und assoziative Elemente

Konventionelle Gebärden sind in ihren Formen nicht wie produktive Gebärden darauf beschränkt, mit den genannten Bilderzeugungstechniken ein in sich geschlossenes und unmittelbar einsichtiges Gesamtbild zu realisieren. Die Interpretation einer Gebärdenform als Bild wird bei konventionellen Gebärden dadurch erschwert, dass der konkrete außersprachliche Entstehungskontext, der die Neubildung einer Gebärde und ihre Ausführung beeinflusst, meist unbekannt und bei der aktuellen Verwendung nicht mehr gegeben ist. Darüber hinaus führen Konventionalisierungs-, Stilisierungs- und Grammatikalisierungsprozesse oft zu Veränderungen der Gebärdenform und schwächen damit die Beziehung von Gebärdenform und ursprünglich zugrunde liegendem Bild, sodass diese nicht immer eindeutig nachvollzogen werden kann. Diesen Prozess nennt man auch Deikonisierung.

Aber auch wenn kein zusammenhängendes Gesamtbild zu erkennen ist, können dennoch oft einzelne Bestandteile der Gebärdenform (z.B. Handform, Ausführungsstelle, Bewegungsart oder Bewegungsrichtung) motiviert sein und daher sinnvoll als Bildbestandteile beschrieben werden. Einige Bestandteile lassen sich auf die oben genannten Bilderzeugungstechniken zurückführen, andere können weniger konkret erklärt werden. Diese finden sich aber häufig als Formelement in einer Reihe von anderen, zum Teil ikonischen Gebärden wieder, sodass sie mit allgemeinen Bedeutungen aufgeladen sind oder bestimmte, eher abstrakte Assoziationen zulassen.28Vgl. Brennan (1990), Johnston/Schembri (1996, 6f. und 1999, 121) und Sutton-Spence/Woll (1999, 174-196, besonders 189ff.). Ob jedoch die durch das Formelement geweckte Assoziation im Einzelfall wirklich zur Motivation der Gebärdenform beigetragen hat, ist eine historische Frage, die anhand der Datenlage nicht geklärt werden kann und daher eher spekulativer Natur ist.

In einer konventionellen Gebärde können verschiedene Formelemente so kombiniert sein, dass einzelne von ihnen motiviert sind und zur Bedeutung der Gebärde passen, ihre Kombination jedoch kein vollständiges Gesamtbild ergibt. Außerdem sind nicht immer alle Formelemente als Bildbestandteile interpretierbar.

Im Folgenden werden exemplarisch einige semantisch aufgeladene Bildbestandteile vorgestellt und die Bedeutungsaspekte oder -bereiche, mit denen sie häufig assoziiert werden, genannt. Auch wenn die einzelnen Formelemente bei vielen Gebärden, in denen sie vorkommen, als motiviert angesehen werden können und dieselben Assoziationen hervorrufen können, ist dies nicht notwendigerweise bei allen Gebärden der Fall, die diese Formelemente aufweisen.

Die Faust kann in vielen Gebärden mit den folgenden Bedeutungsaspekten assoziiert werden:

Beispiele dafür sind die Gebärden AKTIV1A, FEST1A, BLEIBEN2, BÖSE3, RASEN1, AUSHALTEN1B, ABWEHR1, TRAURIG2, WIND.

Das abwechselnde Bewegen der einzelnen, ausgestreckten Finger (Fingerspiel) kann in vielen Gebärden mit den folgenden Bedeutungsaspekten assoziiert werden:

Beispiele dafür sind die Gebärden ÜBERLEGEN, DROGE, AUSBREITEN1, VIEL, RISIKO2, RECHNEN1, WIRKUNG1, UNEBEN1, ZERFRESSEN1.

Die Ausführungsstelle Oberkörper (Brustbereich) kann in vielen Gebärden mit den folgenden Bedeutungsaspekten assoziiert werden:

Beispiele dafür sind die Gebärden KÖRPER1, GESUND1A, LEIDEN2, DEPRESSION, PEINLICH, PSYCHOLOGIE, TRAURIG1, VERINNERLICHT, GEDULD, CHANCE.

Die Ausführungsstelle Schläfe oder Stirn kann in vielen Gebärden mit den folgenden Bedeutungsaspekten assoziiert werden:

Beispiele dafür sind die Gebärden VORSTELLUNG1A, ÜBERLEGEN, VERRÜCKT, SORGEN2A, SOZIAL, MERKEN, GESCHICKT1A, WISSEN, WISSENSCHAFT.

Bildbeschreibungen in den Gebärdeneinträgen

Die den Gebärdenformen zugrunde liegenden Bilder spielen nicht nur eine wichtige Rolle für die lexikalische Analyse, sondern sie liefern dem Benutzer ggf. auch Hinweise auf Verwendungsmöglichkeiten einer Gebärde. Sie stellen einen Anknüpfungspunkt dar, um produktiv weitere Bedeutungen in Form von Mundbildern mit einer Gebärde zu kombinieren (s. produktive Verwendungen) und bilden eine Ausgangsbasis für die Anpassung der Gebärdenform an spezifische Kontexte (Modifikationen). Darüber hinaus kann der Hinweis auf die Motivation der Gebärdenform einem Lerner helfen, sich eine Gebärde besser zu merken. In den Gebärdeneinträgen wird deshalb zu allen Gebärden unter der Rubrik „Beschreibung“ eine Angabe zu ihrem Bildgehalt gemacht.

Etymologische Untersuchungen darüber, auf welchen Ursprung die Form einer konventionellen Gebärde zurückgeht, können ohne ausreichendes historisches Datenmaterial kaum durchgeführt werden und waren auch nicht Bestandteil des Projekts zur Erstellung des GLex. Aus diesem Grund sind verlässliche Angaben zur Motivation der Gebärdenform bei konventionellen Gebärden nicht immer möglich. Dennoch lassen sich die Gebärdenformen oder einzelne Formelemente häufig plausibel deuten. Dabei können Vergleiche zu produktiven Gebärden, existierende Formvarianten, das Modifikationsverhalten der Gebärde und die sprachliche Intuition von Muttersprachlern wertvolle Beiträge und Hinweise liefern. In die Bildbeschreibungen konventioneller Gebärden sind in einigen Fällen aber zwangsläufig auch volksetymologische und spekulative Elemente eingeflossen. Die Angaben zum Bildgehalt sollen daher nicht als gesichertes Wissen, sondern als gut fundierter Versuch verstanden werden, den visuell-darstellenden Aspekten der verzeichneten Gebärden nachzuspüren.

Bildbeschreibungen bei produktiven Gebärden

In der Beschreibung der produktiven Gebärden wird in der Regel der allgemeine bildliche Gehalt der Gebärdenform (Gegenstände, Formen, Handlungen und Abläufe) eher abstrakt beschrieben und zusätzlich die im jeweiligen Kontext beteiligten Gegenstände konkret benannt. Die direkte Nennung ist meist in Klammern angegeben und wird durch „z.B.“ eingeleitet. Um zu verdeutlichen, wie die jeweiligen Gebärden gebildet wurden, wird nach der eigentlichen Beschreibung für jede Hand die Bilderzeugungstechnik angegeben. Nach dieser Angabe folgen bei der substitutiven, manipulativen und skizzierenden Technik weitere Details zum Bildgehalt der jeweiligen Handform und bei Skizzen auch zur Bewegung. Bei substitutiven Gebärden wird der durch die Hand dargestellte Gegenstandstyp benannt, bei manipulativen Gebärden, mit welcher Art von Gegenstand interagiert wird, und bei skizzierenden Gebärden, welche Handteile zum Zeichnen verwendet werden bzw. welche Informationen die zeichnenden Handteile über den Gegenstand transportieren. Bei Skizzen werden anschließend noch die Formaspekte des Gegenstands genannt, die durch die zeichnende Bewegung dargestellt werden.

Die Angaben zum Bildgehalt bei produktiven Gebärden bestehen aus:

Bei einigen symmetrischen oder annähernd symmetrischen Gebärden, bei denen die nichtdominante Hand dieselbe Technik und dieselbe Form wie die dominante Hand hat, steht für die nichtdominante Hand anstelle der Technik eine Zahlenangabe: ①, ② oder ①/②. ① bedeutet, dass beide Hände zusammen einen Gegenstand gemeinsam darstellen (z.B. bei der substitutiven oder skizzierenden Technik) oder zusammen denselben vorgestellten Gegenstand gemeinsam festhalten oder manipulieren (bei der manipulativen Technik). Eine ② bedeutet, dass die beiden Hände nicht auf einen, sondern auf zwei getrennte Gegenstände Bezug nehmen. ①/② bedeutet, dass die Hände zuerst gemeinsam einen Gegenstand darstellen oder festhalten, der jedoch zerteilt wird, sodass die Hände am Ende der Gebärde auf zwei verschiedene Gegenstände Bezug nehmen wie bei RISS1A oder BRECHEN1.

Beispiele:

Bildbeschreibungen bei konventionellen Gebärden

In den Angaben zum Bildgehalt konventioneller Gebärden werden nicht nur vollständige Bilder ikonischer Gebärden beschrieben, sondern auch einzelne Bildbestandteile oder Formelemente benannt, die sich sinnvoll interpretieren lassen. Die zum Teil sehr abstrakten Assoziationen, die mit den Einzelelementen verknüpft sind, lassen sich manchmal nur schwer mit lautsprachlichen Mitteln ausdrücken. Dabei wurde versucht, die große Bandbreite von deutlich erkennbaren und unmittelbar nachvollziehbaren Bildern bis hin zu nur noch vage interpretierbaren Einzelelementen zu berücksichtigen. Verschiedene Formulierungen sollen verdeutlichen, dass es unterschiedliche, nicht klar abgrenzbare Abstufungen der Einsichtigkeit und Interpretierbarkeit von Bildern bzw. Bildelementen sowie unterschiedliche Grade der Zuverlässigkeit der genannten Assoziationen gibt. Die Einsichtigkeit und Interpretierbarkeit von vollständigen, nicht aus verschiedenen Einzelelementen zusammengesetzten Bildern und damit die Zuverlässigkeit der gemachten Angaben nehmen mit folgenden Formulierungen ab:

Die Zuverlässigkeit der Angaben zur Interpretation von aus Einzelelementen zusammengesetzten Bildern bzw. zu Formelementen mit ihren möglichen Assoziationen nehmen mit folgenden Formulierungen ab:

Falls eine Angabe zur beteiligten Bilderzeugungstechnik möglich ist, wird zusätzlich zur Bildbeschreibung – wie bei produktiven Gebärden, allerdings ohne die Details zu Handform und Bewegung – die Technik für die dominante und die nichtdominante Hand mit aufgeführt.

Beispiele für Angaben zum Bildgehalt bei konventionellen Gebärden:

Folgende Formulierungen finden sich in den Bildbeschreibungen:

Berücksichtigung der Bildhaftigkeit bei der lexikalischen Analyse

Die Bildhaftigkeit von Gebärden wurde bei einer Reihe von Analyseschritten berücksichtigt. Die verschiedenen Gebärdenformen zugrunde liegende Bilder können helfen, den Status von Gebärden einzuschätzen und die Beziehung zwischen den Gebärdenformen zu klären.

Die konkrete Ausprägung der Bildhaftigkeit ist eines von mehreren Kriterien bei der Entscheidung, ob es sich bei einer Gebärde um eine produktive oder eine konventionelle Gebärde handelt. Die Bedeutung einer nichtikonischen Gebärde kann nur auf Konvention beruhen. Eine nichtikonische Gebärde, die von anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verstanden wird, muss deshalb eine konventionelle Gebärde sein. Auch Stilisierungen sind ein Hinweis auf häufigen Gebrauch und damit auf die Konventionalisierung von Gebärden. Dagegen kann eine stark ikonische Gebärde entweder produktiv oder konventionell sein.29Zum Verhältnis von Konventionalität und Ikonizität bei Gebärden s.a. Mandel (1977, 59f.)

Auch bei der Entscheidung, ob es sich bei mehreren formgleichen Vorkommen mit unterschiedlichen Bedeutungen um Realisierungen derselben Gebärde oder verschiedener Gebärden handelt, wird das zugrunde liegende Bild der Gebärden berücksichtigt. So unterscheiden wir im GLex zwischen zwei formgleichen Gebärden KRABBELN1A und ZERFRESSEN1. Formgleiche Vorkommen mit der Bedeutung „Bakterien“ oder „Viren“ bzw. „Säure“ oder „Rost“ werden nicht einer einzigen Gebärde zugeordnet, sondern als Realisierungen zweier verschiedener Gebärden interpretiert, weil ihnen unterschiedliche zugrunde liegende Bilder zugeordnet werden können. Bei KRABBELN1A stellen die Hände jeweils ein kleines Tier (wie z.B. eine Spinne oder ein Käfer) dar, das mit seinen vielen Beinen vorankrabbelt. Diese Interpretation wird durch die konventionellen Bedeutungen „Käfer“ und „Spinne“ der Ausführungsvariante KRABBELN1C gestützt. KRABBELN1A wird konventionell für die Bedeutungen „Bakterien“ und „Viren“ verwendet. Für die Bedeutungen „Säure“ und „Rost“ scheint derselben Gebärdenform aber ein anderes Bild zugrunde zu liegen: Hier deuten die gekrümmten und bewegten Finger so etwas wie ein fortschreitendes Brodeln, Blubbern oder Bröseln an, das oft mit Zersetzungs- oder Zerfallsprozessen einhergeht und deshalb damit assoziiert werden kann. Aus diesem Grund werden die Vorkommen mit der Bedeutung „Säure“ oder „Rost“ der Gebärde ZERFRESSEN1 zugeordnet. Das Bild einer Gebärde steckt den Bedeutungsrahmen ab, in dessen Grenzen die Gebärde in Kombination mit entsprechenden Mundbildern für verschiedene Bedeutungen verwendet werden kann (Produktive Verwendungen). Bei der Transkription der erhobenen Sprachdaten ist das Bild ein wichtiges Kriterium dafür, zu welcher von zwei formgleichen Gebärden ein von den Informanten gebärdetes Vorkommen zugeordnet wird.

Oft sind Gebärden nicht rein zufällig formähnlich, sondern gerade deshalb, weil ihre Formen aufgrund ihrer Bilder in einem Zusammenhang stehen. Wir berücksichtigen solche Zusammenhänge bei der lexikalischen Analyse und ziehen u.a. die zugrunde liegenden Bilder zur Einschätzung heran, ob es sich bei zwei formähnlichen Gebärden um Ausführungsvarianten (wie bei ABSTRICH1A und ABSTRICH1B), Modifikationen einer Grundform (KRABBELN11C und KRABBELN1C) oder voneinander unabhängige Gebärden handelt (wie bei KRABBELN1A und AUSBREITEN1 oder ABSTRICH1A und ABSTRICH2A).

Verwendungen konventioneller Gebärden

Gebärdensprachen unterscheiden sich hinsichtlich der Verwendung ihrer Lexeme (Gebärden) von Lautsprachen. Bei der Verwendung konventioneller Gebärden kommen vor allem zwei Besonderheiten zum Tragen. Zum einen sind die meisten Gebärden ikonisch (s. Bildhaftigkeit von Gebärden), zum anderen werden sie in DGS häufig von einem weiteren bedeutungstragenden Zeichentyp, dem Mundbild, begleitet.

Dieses gemeinsame Auftreten verschiedener Zeichentypen hat Auswirkungen auf die lexikalische Struktur und die Verwendung konventioneller Gebärden. Eine konventionelle Gebärde lässt sich oft nicht nur für eine einzige spezifische Bedeutung verwenden, sondern kann in Kombination mit verschiedenen Mundbildern für eine ganze Reihe miteinander zusammenhängender Bedeutungen stehen. Im Folgenden soll dieses gebärdensprachspezifische Phänomen und seine Berücksichtigung bei der Analyse von Gebärden für das GLex näher erläutert werden.

Zusammenspiel von Gebärde und Mundbild

Mundbilder sind absichtsvoll eingesetzte Mundbewegungen, die den Artikulationsbewegungen gesprochener Wörter so stark ähneln, dass sie im Kontext der Gebärdenäußerung als Wörter identifiziert (abgelesen) werden. In der Regel wird das Wort dabei lautlos artikuliert. Auf diese Weise können die Bedeutungen von Wörtern in die gebärdensprachliche Äußerung eingebracht werden.

Die Ergebnisse der Forschung zum Auftreten und zur Funktion von deutschen Wörtern in der DGS (Prillwitz 1988, Ebbinghaus/Heßmann 1989; 1990; 1994b; 1995; 1996, Ebbinghaus 1998a/b) belegen, dass Mundbilder ein natürlicher Bestandteil der DGS sind. Mundbilder stehen in einer dynamischen und produktiven Beziehung zu den Handzeichen, mit denen sie sich wechselseitig kontextualisieren.

Das Identifizieren von Wörtern anhand von Mundbildern ist ein sehr fehleranfälliger Prozess, der nur dann mit einer ausreichenden Verlässlichkeit gelingt, wenn gleichzeitig genügend Anhaltspunkte für die richtige Interpretation der Mundbewegungen geboten werden. Mundbilder, die in gebärdensprachliche Äußerungen eingebettet sind, werden auf die sie begleitenden Gebärden bezogen. Durch diesen Bezug zu einer Gebärde werden zum einen die Wortgrenzen deutlich und zum anderen Kontexte geschaffen, die die mögliche Interpretationen des Mundbilds so stark einschränken, dass das Wort normalerweise richtig abgelesen kann. Gebärden, die zur Kontextualisierung eines Mundbilds herangezogen werden, sind in der Sprachgemeinschaft entweder einigermaßen fest mit diesen Mundbildern assoziiert (konventionelle Verwendung) oder stellen aufgrund ihres Bedeutungsumfangs bzw. ihres zugrunde liegenden Bildes einen nahe liegenden und sinnfälligen Kombinationspartner für das jeweilige Mundbild dar (produktive Verwendung).

Die Bedeutungen des Mundbilds und der Gebärde, die miteinander kombiniert werden, stehen in einem inhaltlichen Zusammenhang, entsprechen sich aber normalerweise nicht vollständig. Ein als Wort identifiziertes Mundbild kann seine Bedeutung in die gebärdensprachliche Äußerung mit einbringen und seinerseits Einfluss auf die Interpretation der Gebärde nehmen, indem es z.B. deren Bedeutung spezifiziert. Die Bedeutung des Mundbilds kann spezifischer oder allgemeiner sein als die Bedeutung der Gebärde oder sich auch nur teilweise mit dieser decken.

Beispielsweise ist der Bedeutungsumfang der ikonischen Gebärde KUGEL3 stark von ihrem zugrunde liegenden Bild (kugelförmiger Gegenstand) geprägt. Diese Gebärde wird in der DGS konventionell zur Benennung einer ganzen Reihe von kugelförmigen Gegenständen verwendet wie „Kugel“, „Ball“, „Kohl“, „Erde“ und „Globus“, ist aber auch für die übertragenen bzw. abstrakteren Bedeutungen „Welt“, „alles“, „allgemein“, „ganz“, „gesamt“, „komplex“ und „Menge“ etabliert. Den Bedeutungsumfang der polysemen Gebärde könnte man also grob mit den Merkmalen kugelförmig, umfassend und vollständig skizzieren. Die Gebärde lässt sich neben den etablierten Bedeutungen produktiv auch noch für eine Reihe weiterer Bedeutungen verwenden, die zu diesem Bedeutungsfeld gehören. Wird KUGEL3 in einer konkreten Äußerungssituation verwendet, muss die kontextuelle Bedeutung durch den sprachlichen oder außersprachlichen Kontext eindeutig spezifiziert werden. Mundbilder sind ein sehr effektives Mittel, um eine solche Spezifizierung von Gebärden zu bewirken. Über ein gleichzeitig geäußertes Mundbild kann eine Gebärde kontextualisiert und ihr damit eine bestimmte kontextuelle Bedeutung zugewiesen werden.

Die in der DGS systematisch genutzte Möglichkeit der wechselseitigen Kontextualisierung von Mundbildern und Gebärden wirkt sich unmittelbar auf die Verwendung von Gebärden und die Struktur des gebärdensprachlichen Wortschatzes aus. Dass Mundbilder die Bedeutung von Gebärden im Kontext spezifizieren, ist wahrscheinlich eine Ursache dafür, dass es im gebärdensprachlichen Lexikon auffallend viele semantisch unterspezifizierte Gebärden wie KUGEL3 gibt, die für eine große Zahl von Bedeutungen aus einem sehr weitläufigen Bedeutungsumfang verwendet werden können. Die Gebärden werden als Zeichen teilweise der Verantwortung enthoben, eindeutige Benennung zu liefern, und können stattdessen ihre visuelle Kraft entfalten. Auf diese Weise ist es möglich, dass für dieselbe Bedeutung je nach kontextuellem Zusammenhang unterschiedliche Gebärden verwendet werden können, deren zugrunde liegende Bilder im jeweiligen Äußerungskontext besonders gut zur spezifischen Bedeutung passen. Da aufgrund ihres ikonischen Gehalts auch andere, relativ unspezifische Gebärden für ein und dieselbe, spezifischere Bedeutung verwendet werden können, könnte dies eine der Ursachen für die hohe lexikalische Variation in DGS sein, in der oft mehrere konventionelle Gebärden (mit unterschiedlichen zugrunde liegenden Bildern) für eine Bedeutung nebeneinander existieren und von denselben Sprechern verwendet werden.

Auf der anderen Seite kann die Bedeutung einer Gebärde durch das zugrunde liegende Bild auch spezifischer als das Mundbild sein. In der DGS gibt es beispielsweise mehrere konventionelle Gebärden, die für die Bedeutung „Selbstmord“ etabliert sind und in der Regel von dem Mundbild 'selbstmord' begleitet werden. Diese Gebärdenformen beruhen jedoch auf unterschiedlichen Bildern, die verschiedene Tötungsarten darstellen: SELBSTMORD1 (ein Messer festhalten und sich selbst damit in die Brust stechen), SELBSTMORD2 (sich mit einer Klinge in den Hals stechen), SELBSTMORD3 (sich eine Pistole an den Kopf halten und abdrücken) und SCHNEIDEN14C (sich mit einer Klinge die Gurgel durchschneiden). Jede dieser Gebärden kann ganz allgemein die Bedeutung „Selbstmord“ ausdrücken. Wird jedoch von einem konkreten Selbstmord einer Person gesprochen und dem Sprecher ist die angewandte Tötungsart bekannt, dann wird er mit großer Wahrscheinlichkeit, die Gebärde wählen, deren Bild zur Tötungsart passt. In diesem Fall ist die Bedeutung der Gebärde spezifischer als die Bedeutung des dazu geäußerten Mundbilds.

Wie die verschiedenen oben genannten Beispiele zeigen, tragen beide Elemente, Mundbilder und Gebärden, in ihrer ganz eigenen Weise zur einer gemeinsamen, von ihnen erzeugten Äußerungsbedeutung bei und werden auf dynamische Weise miteinander kombiniert.30Die wechselseitige Beziehung zwischen Wort und Gebärde in der DGS hat Ebbinghaus (1998a/b) ausführlich dargestellt. Dies schlägt sich in der Struktur des Lexikons der DGS nieder, denn „[d]as Auftreten von Ablesewörtern erlaubt Gebärden im Vergleich zu Wörtern, weitere und vagere Bedeutungsspektra abzudecken, flexiblere Modifikationen, eine größere kategoriale Unbestimmtheit und den weitgehenden Verzicht auf Lexikalisierung ihrer spontan gebildeten Formen“ (1998b, 610). Eine neuere Veröffentlichung zu diesem Thema ist Ebbinghaus (In Vorb.).

Konventionelle Verwendung

Eine konventionelle Gebärde kann in der Regel für mehrere Bedeutungen verwendet werden. Der Bereich der potenziellen Bedeutungen, die mit einer Gebärde ausgedrückt werden können, ist durch das Bild der Gebärde abgesteckt. Alle potenziellen Bedeutungen stehen direkt oder indirekt in Zusammenhang mit dem Bild der Gebärde.

Innerhalb des Bedeutungsspektrums einer konventionellen Gebärde gibt es eine oder mehrere Bedeutungen, für die sie besonders häufig oder regelmäßig verwendet wird. Diese etablierten Form-Bedeutungs-Paare nennen wir konventionelle Verwendungen konventioneller Gebärden. Häufig wird die Gebärde zusammen mit einem entsprechenden Mundbild ausgeführt. Dabei etablieren sich Mundbild-Gebärden-Kombinationen31Ebbinghaus (1998a) spricht in diesen Fällen von „bevorzugter Verbindung“ zwischen einer Gebärde und einem bestimmten deutschen Wort., deren Häufigkeit einen starken Hinweis auf die Konventionalität der jeweiligen Form-Bedeutungs-Verbindung liefern.32Neben der Häufigkeit ist die Intuition Gehörloser ein weiteres Kriterium für die Bestimmung konventioneller Verwendungen einer Gebärde. Zur Problematik des Wortbezugs von Gebärden sowie zur Intuition und zu semantischen Kriterien bei der Bestimmung und Abgrenzung von Gebärden s.a. Heßmann (2001, Bd. 1, 49ff.).

Dazu ein Beispiel: Die Gebärde KREISLAUF1A zeigt in ihrem Bild, wie etwas im Körper zirkuliert. Diese Gebärde wird in DGS konventionell für die Bedeutungen „Kreislauf“ und „Hormon“ verwendet. Beide Bedeutungen stehen in einer assoziativen Verbindung mit dem Bild der Gebärde: Der Kreislauf ist das System, in dem Blut zirkuliert, und mit dem Blut werden Hormone transportiert.

Produktive Verwendung

Nicht alle Bedeutungen, für die eine konventionelle Gebärde verwendet werden kann, sind fest etabliert. Eine Gebärde kann in einem konkreten Kontext auch für weniger übliche Bedeutungen stehen, wenn diese zu dem durch das Bild abgesteckten Bedeutungsbereich gehören oder auf andere Weise mit dem Bild in Zusammenhang stehen. Normalerweise wird dabei die Gebärde von einem Mundbild begleitet, das der eher unüblichen, kontextuellen Bedeutung der Gebärde entspricht und diese festlegt. Wir nennen solche Vorkommen produktive Verwendungen einer konventionellen Gebärde.

Ein Beispiel: Die Gebärde KREISLAUF1A kann zusätzlich zu ihren konventionellen Bedeutungen „Kreislauf“ und „Hormon“ (s. Konventionelle Verwendung) auch für weitere Bedeutungen verwendet werden, wenn das Bild der Gebärde eine effektive Kontextualisierung für diese Begriffe bietet. Im GLex sind vier solche produktiven Verwendungen dieser Gebärde aufgeführt: KREISLAUF1A wurde in Kombination mit dem entsprechendem Mundbild für die (Teil-)Bedeutungen „Durchblutung“, „Stoffwechsel“, „Östrogen“ und „Testosteron“ benutzt.33Würden Wissenschaftler ein neues Hormon entdecken, das z.B. Figaron genannt würde, so würde auch diese Bedeutung in den Bereich potenzieller Bedeutungen der Gebärde KREISLAUF1A fallen und man könnte sie kombiniert mit dem Mundbild 'figaron' – vorausgesetzt, dass der Name des neue Hormons bereits hinreichend bekannt ist – für die Bedeutung „Figaron“ verwenden, ohne sich in der Sprachgemeinschaft zuerst auf diese Verwendung der Gebärde KREISLAUF1A verständigen zu müssen. Diese produktive Verwendung von KREISLAUF1A wäre bereits durch den allgemeinen Bedeutungsbereich der Gebärde abgedeckt. Die Möglichkeit, bildhafte Gebärden und Mundbilder zu kombinieren, ist der entscheidende Faktor dafür, dass konventionelle Gebärden in der DGS so häufig produktiv verwendet werden.

Produktive Verwendungen einer konventionellen Gebärde werden in den Gebärdeneinträgen unter „Produktive Verwendungen:“ aufgeführt.

Gebärdenketten

Häufig wird nicht nur eine einzige Gebärde, sondern eine Abfolge von zwei oder mehreren Gebärden verwendet, um eine einzige Bedeutung auszudrücken oder ein Mundbild zu kontextualisieren. Solche Gebärdenreihungen nennen wir Gebärdenketten.

Eine besondere Art der Gebärdenketten sind die Lehnübersetzungen34Auch bei Lautsprachen gibt es Lehnübersetzungen, bei denen die Struktur des zu übersetzenden Wortes der Ausgangssprache beibehalten und die einzelnen Teile Stück für Stück mit Wortmaterial aus der Zielsprache übersetzt werden (z.B. ist Lautsprecher eine deutsche Lehnübersetzung des englischen Wortes loudspeaker). (vgl. Becker 2003). Bei ihnen orientiert sich die Struktur der Gebärdenkette an der Struktur und Reihenfolge des mehrgliedrigen Mundbilds. Bei der Übertragung lautsprachlicher Komposita in die DGS können einzelne Bestandteile des durch den lautsprachlichen Begriff vorgegebenen Mundbilds von Gebärden begleitet werden, die jeweils zu den isolierten Wortteilen passen und diesen kontextualisieren. Dabei wird eine von vielen möglichen Gebärden für einen Wortteil ausgewählt und mit einer von vielen möglichen Gebärden für einen anderen Wortteil kombiniert. Oft werden dazu Gebärden verwendet, die konventionellerweise für mindestens eine Bedeutung des jeweiligen Mundbildteils etabliert sind. Nach diesem Muster können sehr viele verschiedene Kombinationen von Gebärden entstehen, die alle denselben komplexen Begriff kontextualisieren, der als Mundbild die Reihenfolge der Gebärden vorgibt.

Da deutsche Fachwörter häufig zusammengesetzte Formen sind, kommt dieser Gebärdenbildungsprozess bei einem Fachgebärdenlexikon besonders stark zum Tragen. Dazu ein Beispiel: Der Fachbegriff Nebenwirkung besteht aus zwei im Deutschen auch isoliert vorkommenden Teilen (Lexemen): neben und Wirkung. Fast alle transkribierten DGS-Entsprechungen, die unsere Informanten bei der Erhebung für den Begriff Nebenwirkung gezeigt haben, waren Gebärdenketten aus zwei Gebärden, wobei die erste Gebärde das Mundbild 'neben' kontextualisiert und die zweite Gebärde das Mundbild 'wirkung'. Alle im Lexikon verzeichneten, verschiedenen Gebärdenformen – drei für 'neben' und fünf für 'wirkung' – sind für die jeweilige Bedeutung des Mundbildteils lexikalisiert. Über die im Fachgebärdenlexikon gezeigten Gebärdenketten hinaus sind auch andere, vergleichbare Kombinationen möglich.

NEBEN2 WIRKUNG11
NEBEN2 WIRKUNG12
NEBEN1B AUSBREITEN2A
NEBEN1A WIRKUNG2
NEBEN1A PASSIERT1A

Bei solchen Gebärdenketten handelt es sich in der DGS meist nicht um festgefügte, lexikalisierte Gebärdenfolgen, die nur in dieser einmaligen Kombination benutzt und verstanden werden können, sondern um das Ergebnis eines spontanen Gebärdenbildungsprozesses.35Bei diesen Gebärdenketten handelt es sich nicht um lautsprachbegleitendes Gebärden (LBG). Dieser Prozess ist dem lautsprachbegleitenden Gebärden nur darin ähnlich, dass die Reihenfolge der Gebärden dem deutschen Kompositum entspricht. Die Gebärdenketten selbst sind jedoch genauso wie andere konventionelle oder produktive Gebärden in ein DGS-Satzgefüge eingebettet. Im Gegensatz dazu ist die Reihenfolge der Gebärden beim lautsprachbegleitenden Gebärden durch das Satzgefüge der Lautsprache bestimmt, das vollständig erhalten bleibt und lediglich als Unterstützung zum leichteren Ablesen von Gebärden begleitet wird.

Aneinanderreihungen von Gebärden folgen jedoch nicht immer der Struktur des deutschen Kompositums oder des deutschen Ausdrucks. Bei manchen Gebärdenketten umschreiben die Gebärden gewissermaßen mit eigenen Worten den Inhalt dessen, was gemeint ist, wie z.B. bei Unfruchtbarkeit: DICK1B/'schwanger' KANN11A/(Mundgestik/Kopfschütteln).36Eine ausführliche Darstellung des Zusammenspiels von Gebärde und Mundbild anhand von Beispieldaten findet sich in Langer/Bentele/Konrad (2002).

Gebärdenraumnutzung

Der Gebärdenraum ist der körpernahe Bereich, im Wesentlichen vor dem Sprecher, in dem die Gebärden ausgeführt werden. Er schließt die beim Gebärden einbezogene Körperoberfläche des Sprechers mit ein. In der DGS wird der Gebärdenraum dazu genutzt, Äußerungen zu strukturieren (z.B. Unterscheidung verschiedener Einheiten, Gegenüberstellung, Vergleich, Gliederung, Aufzählung) oder um räumliche und grammatische Bezüge herzustellen. Diese Strukturen und Bezüge werden unter anderem37Weitere Aspekte der Raumnutzung sind z.B. der Gebrauch der Zeigegebärde, das Ausrichten des Oberkörpers beim sogenannten Rollenwechsel und der Einsatz der Blickrichtung. dadurch realisiert, dass Gebärden an unterschiedlichen Stellen im Gebärdenraum ausgeführt werden (Positionierung) und dass Gebärden ihre Bewegungsrichtung und/oder ihre Orientierung auf unterschiedliche Orte im Gebärdenraum ausrichten. Die Orte im Gebärdenraum, zu denen modifizierte Formen von Gebärden einen Bezug herstellen, können oft als topographisch-räumliche Bedeutungen interpretiert werden, z.B. wo etwas stattfindet oder sich befindet oder wohin sich etwas bewegt. Bei vielen Gebärden wird darüber hinaus durch den Ortsbezug auch eine weitergehende inhaltlich-semantische Beziehung ausgedrückt. So drücken bei der Gebärde HELFEN Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung aus, wer hilft und wem geholfen wird. Die meisten Gebärden der DGS lassen eine Raumnutzung auf die eine oder andere Weise zu.

Als Teil des Gebärdenraums ist der Körper des Gebärdenden immer präsent und steht somit als Modell des menschlichen Körpers zur Verfügung, auf das mit Gebärden direkt Bezug genommen werden kann. An diesem Modell kann man auf verschiedene Körperteile zeigen, sie berühren oder in ihrer Nähe gebärden, um so auf Körperteile, innere Organe, Körperfunktionen und Krankheiten an bestimmten Körperregionen zu verweisen. Man kann zeichnende Bewegungen am Modell ausführen oder verschiedene Handformen am Körper platzieren, um die Form und Lage von Körperteilen deutlich zu machen. Eine ganze Reihe von Gebärden lassen sich auch an verschiedenen Körperstellen ausführen, um zu zeigen, dass etwas an diesen Körperstellen geschieht oder ausgeführt wird (z.B.: SPRITZEN1, SCHNEIDEN1C, AUSDEHNEN1A). Normalerweise wird in der Gebärdensprachlinguistik davon ausgegangen, dass der Gebärdenraum in etwa bis zur Hüfte reicht und Gebärden nur in seltenen Fällen unterhalb der Hüfte (wie z.B. die konventionelle Gebärde BEIN1 (auf den Oberschenkel klopfen) oder hinter dem Körper ausgeführt werden (wie z.B. die konventionelle Gebärde OMA (Bild: Dutt, Ausführungsstelle am Hinterkopf)). Bei der Erhebung für das GLex bot sich jedoch ein anderes Bild. Wenn der Körper in der beschriebenen Weise als Modell genutzt wird, dann ist dies nicht zwangsläufig auf den normalen Gebärdenraum beschränkt. Sofern es die Kommunikationssituation erlaubt – sofern also Erreichbarkeit und Erkennbarkeit gegeben sind – wird der Körper ganz selbstverständlich auch außerhalb des üblichen Gebärdenraums wie z.B. unterhalb der Hüfte oder hinter dem Körper als Modell genutzt. Bei unserer Erhebung saßen die Informanten auf einem Stuhl frei sichtbar für den Interviewpartner und die Kamera im Raum. Durch die sitzende Position waren Oberschenkel und Knie gut sichtbar und für die Gebärdenden mit ihren Händen bequem zu erreichen. Die Informanten benutzten häufig und ganz selbstverständlich körperbezogen variierbare Gebärden und produktive Gebärden an den Oberschenkeln und Knien (z.B. bei Meniskus, Kreuzbandriss und Krampfader). Zum Teil haben sich die Gebärdenden sogar vorgebeugt oder ein Bein leicht angehoben, um den Unterschenkel zu erreichen (z.B. bei den Begriffen Wadenbein, Schienbein etc.). Damit ergibt sich die eigentümliche Situation, dass es Gebärden oder Gebärdenformen gibt, die in dieser Weise nur im Sitzen ausgeführt werden können. Im Stehen oder wenn man beispielsweise an einem Tisch sitzt, muss eine andere Variante der Gebärde, eine völlig andere Gebärde oder ggf. eine Umschreibung gewählt werden, weil in dieser Position beispielsweise das Knie mit den Händen nicht mehr erreicht bzw. nicht mehr gesehen werden kann.38Dieses Ergebnis unserer Erhebung legt nahe, dass der Gebärdenraum nicht an der Hüfte endet, sondern lediglich durch die Erreichbarkeit und Sichtbarkeit bzw. Erkennbarkeit der Hände beschränkt wird. Wir haben einige dieser Gebärden, die nur im Sitzen ausgeführt werden können, und einige Varianten, die im Sitzen anders ausgeführt werden als im Stehen, in die Auswahl für das Fachgebärdenlexikon aufgenommen (z.B. KNIE1A, KREUZBAND-im-Sitzen, RISS12A-im-Sitzen).

Die Nutzung des Gebärdenraums und die in variierenden Gebärdenausführungen realisierten Bezüge sind ein theoretisch komplexes Gebiet, das in der gebärdensprachlinguistischen Forschung intensiv diskutiert wird und zu dem es unterschiedliche theoretische Ansätze gibt, die zu verschiedenen Einteilungen von Gebärden führen.39Beispielsweise Padden (1990), Johnston (1993a/b), Sutton-Spence/Woll (1999, 129ff.). Die im GLex vorgenommene Einteilung folgt keiner bestimmten linguistischen Sichtweise oder theoretisch fundierten Klassifizierung von Gebärden. Bei vielen im Lexikon gezeigten Gebärden handelt es sich um Gebärden in ihrer neutralen, unmarkierten Form. Da nur isolierte Gebärden als Antworten auf einzelne Fachbegriffe erhoben wurden, bietet das für das GLex erhobene Datenkorpus in den meisten Fällen keine ausreichende Grundlage für empirisch gesicherte Aussagen über das Verhalten einer Gebärde im Gebärdenraum. Daher beruhen die Angaben zur Gebärdenraumnutzung überwiegend auf dem Sprachgefühl der gehörlosen Mitarbeiter. Die Angabe, ob eine Gebärde im Gebärdenraum variiert werden kann oder nicht, ist als pragmatische Hilfestellung bei der Verwendung der Gebärden im Kontext zu verstehen. Eine zukünftige, empirische Überprüfung der hier gemachten Angaben ist wünschenswert.

Nicht alle variierbaren Gebärden lassen sich auf die gleiche Weise modifizieren. Es werden normalerweise nur Modifikationen gebildet, die anatomisch möglich und bequem auszuführen sind. Die Art und Anzahl der möglichen Modifikationen können darüber hinaus auch von semantischen Gesichtspunkten der jeweiligen Gebärde abhängen (s. Grundform und Modifikation).

Auch wenn eine Gebärde räumlich modifiziert und auf bestimmte Orte im Gebärdenraum bezogen werden kann, bedeutet dies nicht, dass sie bei jeder einzelnen Verwendung auch immer auf einen bestimmten Ort ausgerichtet werden muss. Oft ist die unmodifizierte, neutrale Ausführung einer Gebärde ausreichend und grammatisch korrekt. Bei manchen Gebärden ist die neutrale Form gebräuchlicher und eine räumliche Modifikation eher selten, andere Gebärden hingegen werden mit großer Regelmäßigkeit räumlich modifiziert (z.B. GEBEN1). Genauere Regeln für den Gebrauch von räumlich modifizierbaren Gebärden sind Teil einer noch ausstehenden, empirisch fundierten DGS-Grammatik, die auf einzelne Gebärdentypen eingeht, und werden daher im Rahmen dieses Lexikons nicht berücksichtigt.

Im GLex teilen wir konventionelle Gebärden hinsichtlich der Gebärdenraumnutzung in vier verschiedene Gruppen ein: variierbare, körperbezogen variierbare, raum- und körperbezogen variierbare und invariante Gebärden. In den Gebärdeneinträgen (GLOSSEN: Konventionelle Gebärden) wird zu jeder konventionellen Gebärde unter der Überschrift „Gebärdenraumnutzung“ angegeben, ob eine Gebärde im Kontext variiert werden kann oder nicht. Die verschiedenen Variationsmöglichkeiten werden im Einzelnen jedoch nicht aufgeführt. Die Angabe „variierbare Gebärde“ besagt lediglich, dass eine bestimmte Gebärde modifiziert werden kann, nicht jedoch, ob sie in einem gegebenen Kontext auch modifiziert werden muss. Im Folgenden werden die einzelnen Gruppen näher erläutert.

Variierbare Gebärden

Variierbare Gebärden sind konventionelle Gebärden, die auf bestimmte Orte im Gebärdenraum bezogen werden können. Im jeweiligen Kontext wird dieser Bezug durch eine entsprechende Veränderung der Ausführungsstelle, der Handorientierung und/oder der Bewegungsrichtung ausgedrückt.

Die Ausführung einer Gebärde an einer bestimmten Stelle im Gebärdenraum kann dazu dienen, verschiedene Redegegenstände zu unterscheiden, einen Redegegenstand an einer bestimmten Stelle zu verorten, auf einen bereits verorteten Redegegenstand Bezug zu nehmen oder eine topographische Information zu geben, d.h. anzuzeigen, wo sich ein Gegenstand befindet, wohin er sich bewegt oder wo eine Handlung ausgeführt wird. Dazu einige Beispiele: Bei der vierten Übersetzungsvariante für den Begriff Blutgruppenunverträglichkeit wird die Gebärde GRUPPE1B modifiziert ausgeführt: einmal auf der linken und einmal auf der rechten Seite (GRUPPE12B). Diese Modifikation markiert räumlich, dass hier von zwei verschiedenen Blutgruppen die Rede ist. Auch die beiden nachfolgenden Gebärden BEIDE und GEGEN3 sind variierbar und richten sich in ihren Bewegungen im Raum entsprechend dieser Anordnung der beiden Blutgruppen aus. Die Gebärde HAUS1A kann an verschiedenen Stellen im Gebärdenraum positioniert werden, um auszudrücken, wo das Haus in Relation zu anderen Objekten wirklich steht bzw. um ein Haus an einem bestimmten Ort im Gebärdenraum zu verorten. Wird die Gebärde SCHREIBEN1A an einem bestimmten Ort ausgeführt, so kann man damit ausdrücken, wo etwas hin- oder aufgeschrieben wird.

Bei vielen Gebärden wird über den Ortsbezug auch eine weitergehende inhaltlich-semantische Beziehung zu dem an diesem Ort lokalisierten Gegenstand oder der Person ausgedrückt. Die Gebärde FÖRDERN1A zeigt z.B. durch die Ausrichtung der gestreckten Finger an, wer gefördert wird. GEHÖREN beginnt im neutralen Gebärdenraum und richtet sowohl die Bewegungsrichtung als auch die Orientierung der Handfläche auf die Person aus, die etwas besitzt oder zu der etwas gehört.

Einige variierbare Gebärden können in ihrer Form den Bezug nicht nur zu einem, sondern zu zwei Orten im Gebärdenraum herstellen. Auch bei dem Bezug auf zwei Orte können sowohl räumliche Informationen als auch inhaltliche Bezüge zu Personen oder Sachen, die diesen Orten zugeordnet sind, ausgedrückt werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Gebärde GEBEN1. Je nach Kontext ändert sich ihre Bewegungsrichtung. Die Bewegungsbahn liegt zwischen dem Ort im Gebärdenraum, an dem die Person lokalisiert ist, die etwas gibt (Ausgangspunkt), und dem Ort, der der Person zugeordnet ist, die etwas bekommt (Endpunkt).40Eine Ausrichtung der Bewegung auf Orte im Gebärdenraum bedeutet nicht, dass die Bewegung an den jeweiligen Orten beginnen bzw. enden muss. In der Regel realisiert die Bewegungsbahn nur ein Teilstück der Verbindungslinie zwischen den Orten und zeigt dadurch die beteiligten Personen oder Sachen an. Die Bewegungsrichtung zeigt an, welcher Person welche Rolle (Geber oder Empfänger) zugeordnet ist.

Die Gebärde TRENNEN1 richtet ihren Ausgangspunkt auf die Nahtstelle zwischen den beiden Personen, Dingen oder Parteien, die sich trennen oder getrennt sind, aus.

Unter der Überschrift „Gebärdenraumnutzung“ steht die Angabe „Variierbare Gebärde“. Bei Gebärden, die sich in ihrer Form auf zwei Orte beziehen können, wird zusätzlich erläutert, welche inhaltlichen Bezüge jeweils mit den Orten assoziiert sind. Bei Modifikationen, die bestimmte räumliche oder grammatische Bezüge ausdrücken, wird darüber hinaus angegeben, dass es sich um eine positionierte bzw. ausgerichtete Gebärde handelt.

Manche Modifikationen unterscheiden sich von der Grundform lediglich dadurch, dass ihre Lage im Raum anders ausgerichtet ist, um sich an vorgegebene Konstellationen anzupassen, wie z.B. MESSEN11A im Verhältnis zu MESSEN1A. In solchen Fällen steht unter der Überschrift „Gebärdenraumnutzung“ „Variierbare Gebärde: Lage im Raum“. Modifikationen, deren räumliche Nutzung des Gebärdenraums darin besteht, dass die Gebärde mehrfach nebeneinander versetzt ausgeführt wird, sind unter „Gebärdenraumnutzung“ mit „mehrfach“ gekennzeichnet.41Trotz des dadurch im zugrunde liegenden Bild hervorgerufenen Plurals handelt es sich nicht in allen Fällen auch in der intendierten Bedeutung der Gebärde um einen Plural.

Körperbezogen variierbare Gebärden

Einige Gebärden können an verschiedenen Stellen des Körpers ausgeführt werden, um den entsprechenden Körperteil in ihre Bedeutung aufzunehmen. Oft handelt es sich hierbei um Gebärden, deren Grundform eine über das Bild der Gebärde motivierte Ausführungsstelle am Körper hat. Bei der Ausführung einer solchen Gebärde an einer bestimmten, anderen Stelle am Körper wird der Bezug zu diesem anderen Körperteil hergestellt. Wir nennen solche Gebärden körperbezogen variierbare Gebärden.

Ein Beispiel für eine körperbezogen variierbare Gebärde ist die Gebärde ORGAN1A. Diese Gebärde kann, je nachdem von welchem Organ die Rede ist, an verschiedenen Körperstellen ausgeführt werden (vgl. hierzu die Gebärdeneinträge der Modifikationen ORGAN11A bis ORGAN19A, zu denen man über GLOSSEN: Konventionelle Gebärden gelangt.)

Die Gruppe der körperbezogen variierbaren Gebärden ist eine Untergruppe der variierbaren Gebärden. Reine, ausschließlich körperbezogene Gebärden kommen offenbar weniger häufig vor als Gebärden, die sowohl am Körper als auch im übrigen Gebärdenraum variiert werden können.

Raum- und körperbezogen variierbare Gebärden

Die Grenzen zwischen variierbaren Gebärden ohne und mit Körperbezug sind oft durchlässig und fließend. Es gibt Gebärden, die in ihrer Grundform zu der Gruppe der variierbaren Gebärden ohne Körperbezug gehören, aber dennoch so modifiziert werden können, dass sie einen Körperbezug erhalten. Umgekehrt können einige Gebärden, die zur Gruppe der körperbezogen variierbaren Gebärden gehören, bei bestimmten Modifikationen auch ohne Körperbezug ausgeführt und stattdessen an einem anderen Ort im Gebärdenraum positioniert werden. Gebärden, die sowohl mit als auch ohne Körperbezug im Gebärdenraum variiert werden können, weisen wir im GLex als „Raum- und körperbezogen variierbare Gebärden“ aus. Da es sich bei medizinischen und pflegerischen Begriffen fast ausschließlich um Zusammenhänge handelt, die etwas mit dem Körper zu tun haben, ist der Anteil an Gebärden, die einen Körperbezug herstellen können, in diesem Fachgebärdenlexikon besonders hoch.

Die Gebärde BEREICH1 ist eine variierbare Gebärde, die normalerweise keinen Körperbezug hat. Sie kann aber auch am Körper ausgeführt werden, um bestimmte Bereiche des Körpers zu bezeichnen, wie dies bei der Modifikation BEREICH17 der Fall ist. Weitere Beispiele für Gebärden, die sowohl körperbezogen als auch raumbezogen variiert werden können sind SPRITZEN1 und SCHNEIDEN1C.

Invariante Gebärden

Bei einigen Gebärden ist es nicht möglich, Ausführungsstelle, Orientierung und Bewegungsrichtung je nach Kontext und inhaltlichen Bezügen auf bestimmte Orte im Gebärdenraum oder Körperstellen auszurichten. Wir nennen solche Gebärden invariante Gebärden. Unter der Überschrift „Gebärdenraumnutzung“ steht die Angabe „Invariant“. Invariante Gebärden werden immer in der im Lexikon gezeigten Weise ausgeführt. Die überwiegende Mehrzahl der invarianten Gebärden hat eine feste Ausführungsstelle am Körper wie z.B. ALKOHOL, ALT1A, SCHWEIGEN1, CI, CHANCE, ANGST. Oft ist diese Ausführungsstelle durch die Bedeutung motiviert und im zugrunde liegenden Bild der Gebärde verankert.

Einige Gebärden verweisen in ihrer Form durch ihre Ausführungsstelle auf Körperteile, die (wie bei AUGE, ARM2 oder NIERE1A) im Körper paarig vorkommen oder (wie bei ZAHN1B) nur an einer sehr begrenzten Körperstelle vorhanden sind. Häufig handelt es sich dabei um indexikalische Gebärden (indizierende Technik). Im konkreten Gebrauch kann die Ausführungsstelle einer solchen Gebärde ggf. genauer spezifiziert werden, z.B. um auf das linke, rechte oder beide Augen oder auf einen bestimmten Zahn Bezug zu nehmen. Abgesehen von dieser Möglichkeit der Spezifizierung, lassen sich solche Gebärden jedoch nicht an anderen Körperteilen positionieren und werden daher von uns zu den invarianten Gebärden gezählt. Bei den Gebärden, die wie ZAHN1B nur für einen sehr begrenzten Bereich spezifiziert werden können, steht unter der Überschrift „Bemerkung“ ein entsprechender Hinweis.

Beziehungen zwischen Gebärden

Betrachtet man Gebärden und ihre unterschiedlichen Realisierungsformen nicht isoliert, sondern vergleicht sie mit anderen Gebärden, so kann man feststellen, dass es unterschiedliche, zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen zwischen einzelnen Gebärdenformen und zwischen verschiedenen Gebärden gibt. Einige dieser Beziehungen werden im GLex über die Glossierung deutlich gemacht, andere durch Verweise erfasst. Dies wird im Folgenden näher erläutert.

Grundform und Modifikation

Häufig gibt es mehrere Gebärdenformen, die über ihre zugrunde liegenden Bilder eng miteinander verwandt sind. Bei den meisten ikonischen konventionellen Gebärden kann die Gebärdenform modifiziert werden. Modifizieren bedeutet, dass die Form der Gebärde auf Grundlage des Bildes verändert wird, um die Bedeutung der Gebärde zu erweitern oder zu spezifizieren. Dabei wird das Bild einer Gebärde mit zusätzlichen Informationen versehen und erweitert oder spezifiziert. Auf diese Weise entstehen miteinander verwandte Gebärdenformen. In vielen Fällen handelt es sich dabei um verschiedene, an den jeweiligen Äußerungskontext angepasste Realisierungen einer Gebärde, manchmal sind diese unterschiedlichen Formen aber zusätzlich auch für spezielle Bedeutungen lexikalisiert. Alle Gebärdenformen bekommen einen eigenen Gebärdeneintrag, die Zusammengehörigkeit dieser Formen wird aber über die Glossierung deutlich gemacht. Unter einer Grundform verstehen wir die einfachste oder gebräuchlichste Form einer solchen Gruppe verwandter Gebärdenformen. Dies ist meist auch die Form, mit der eine Gebärde ausgeführt wird, wenn sie außerhalb eines alltäglichen Verwendungskontextes isoliert geäußert wird.42Zur Kontextualisierung von Wortteilen komplexer Mundbilder wird meist ebenfalls die Grundform verwendet. Manchmal gibt es innerhalb einer Modifikationsfamilie, d.h. verwandter Gebärdenformen, mehrere relativ neutrale Formen mit Grundformcharakter. In solchen Fällen ist die Wahl einer Grundform eine relativ willkürliche lexikographische Entscheidung. Gebärden(formen), die aus einer solchen Grundform abgeleitet zu sein scheinen, weil ihr Bedeutungsunterschied mit einem entsprechenden Unterschied zum Bild der Grundform einhergeht, werden im GLex als Modifikationen bezeichnet.43Vgl. dazu auch Mandel (1977, 71ff.). Im Einzelfall lässt sich nicht immer sagen, ob eine Gebärde durch die Veränderung eines Bildes aus einer anderen Gebärde abgeleitet wurde, oder ob sie auf anderem Wege unabhängig davon entstanden ist.

Viele Modifikationen sind grammatischer Art. So kommt beispielsweise ÜBERTRAGEN1A (etwas Dünnes oder Feines mit beiden Händen festhalten und von einer Stelle zu einer anderen Stelle bringen (stilisiert)) auch mit einer Reihe von veränderten Formen vor, durch die die Bedeutungen der Gebärde dahingehend spezifiziert werden, von wem zu wem oder von wo nach wo etwas übertragen oder weitergegeben wird: Zum Beispiel weist die Gebärdenform ÜBERTRAGEN12A gegenüber ÜBERTRAGEN1A eine Veränderung in der Bewegungsrichtung auf. Diese Veränderung der Form liegt in dem der spezifischen Bedeutung angepassten Bild begründet: der Sprecher bekommt etwas übertragen, im diesem Fall Krankheitserreger. Hier resultiert die Modifikation aus der Gebärdenraumnutzung bei variierbaren Gebärden. Wir betrachten die Grundformen und die zugehörigen Modifikationen jeweils als verschiedene Realisierungen oder Wortformen derselben Gebärde.

Darüber hinaus können einzelne Modifikationen auch lexikalisiert werden. Die Bedeutung einer lexikalisierten Modifikation lässt sich nicht immer vollständig aus der Bedeutung der Grundform und einer grammatischen Regel herleiten, sondern ist durch Konvention festgelegt und meist spezifischer. Hierzu ein Beispiel: Die Gebärde SCHNEIDEN1C mit der Grundbedeutung „Operation, operieren“ kann so modifiziert werden, dass sie an dem Körperteil ausgeführt wird, an dem die Operation stattfindet. Aus den modifizierten Gebärdenformen SCHNEIDEN16C und SCHNEIDEN19C wird deutlich, dass es sich um eine Operation im mittleren Bauchbereich bzw. um eine Operation mit zwei Schnitten links und rechts seitlich am Bauch handelt. Diese Gebärden sind jedoch für die spezifischeren Bedeutungen „Kaiserschnitt“ bzw. „Sterilisation“ lexikalisiert. Welche Modifikationen für bestimmte, spezifischere Bedeutungen lexikalisiert sind, ist in den Bedeutungsangaben in den Gebärdeneinträgen aufgeführt.

Unter GLOSSEN: Konventionelle Gebärden führen wir Grundformen mit ihren zugehörigen grammatischen und lexikalisierten Modifikationen im Zusammenhang nacheinander auf: Alle Gebärden einer Modifikationsfamilie haben den gleichen Glossennamen und die gleiche erste Ziffer nach dem Glossennamen. Die Glossen von Modifikationen unterscheiden sich von der Glosse ihrer zugehörigen Grundform durch eine zusätzlich angehängte zweite Ziffer.

Ausführungsvarianten

Bei einigen konventionellen Gebärden gibt es geringfügige Unterschiede in der Form, die jedoch nicht im zugrunde liegenden Bild begründet sind und auch die Bedeutung der Gebärde nicht verändern. Treten solche leicht unterschiedlichen Formen, die alle auf demselben zugrunde liegenden Bild beruhen, mit einer gewissen Häufigkeit auf, so werden sie als Ausführungsvarianten derselben Gebärde interpretiert, als eigene Form aufgeführt und durch Großbuchstaben am Ende des Glossennamens unterschieden.44Nicht jeder geringfügige Unterschied in der Form wird auf diese Weise erfasst. Einige Formaspekte von Gebärden (Ausführungsstelle, Bewegung) haben sekundäre Merkmale wie z.B. die Bewegungsrichtung bei Kreisbewegungen und den Anfangspunkt bei alternierenden Bewegungen, die unterschiedlich ausgeführt werden können (vgl. Zur Ausführung von Gebärden ). Ausführungsvarianten sind normalerweise zumindest für eine Grundbedeutung in den meisten gebärdensprachlichen Kontexten gegeneinander austauschbar, ohne dass sich dadurch die Bedeutung der Äußerung ändert.

Im GLex sind z.B. vier verschiedene Gebärdenformen aufgeführt, die in DGS konventionell für die Bedeutung „Milch“ verwendet werden und in den meisten Kontexten ohne Bedeutungsunterschied gegeneinander ausgetauscht werden können: MILCH1A, MILCH1B, MILCH1C und MILCH1D. Diese vier Ausführungsvarianten lassen sich alle auf dasselbe zugrunde liegende Bild (Melken) zurückführen. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass sie mit verschiedenen Handformen ausgeführt werden. Diese Formunterschiede in der Ausführung des Bildes lassen sich durch unterschiedliche Grade der Stilisierung erklären: MILCH1D zeigt noch sehr anschaulich, wie die Zitzen abwechselnd ergriffen und zusammengedrückt werden. Die Ausführung von MILCH1C ist schon etwas reduzierter und schematischer: Es wird keine Handformveränderung mehr dargestellt. Stattdessen wird eine einfache Handform (die Faust) verwendet, die typischerweise bei manipulativen Gebärden vorkommt, um darzustellen, wie ein imaginärer Gegenstand festgehalten wird. Die Ausführungen von MILCH1A und MILCH1B sind noch stärker stilisiert: Hier sind die Handformen so verändert, dass man ihnen ihren manipulativen Ursprung nicht mehr ansieht. Die Formunterschiede dieser vier verschiedenen Ausführungsvarianten liegen jedoch nicht in dem der Gebärde zugrunde liegenden Bild begründet und haben auch keinen Einfluss auf die Bedeutung der Gebärde.

Wenn zwei bedeutungsgleiche Gebärden auf dem gleichen Bild beruhen, das Bild jedoch durch zwei unterschiedliche Bilderzeugungstechniken erzeugt wird, betrachten wir diese Gebärden nicht als Ausführungsvarianten derselben Gebärde, sondern als zwei verschiedene, synonyme Gebärden. Dies ist z.B. bei PILZ1 und PILZ2A der Fall. Beide Gebärden haben als zugrunde liegendes Bild einen typischen Pilz mit Stiel und Schirm. Bei PILZ2A werden beide Elemente mit der substitutiven Bilderzeugungstechnik dargestellt, während bei PILZ1 der Schirm des Pilzes mit der skizzierenden Technik an den substitutiv dargestellten Stil gezeichnet wird. Da sich beide Gebärden in der Technik unterscheiden, werden sie nicht als Ausführungsvarianten einer Gebärde, sondern als zwei verschiedene, synonyme Gebärden, (d.h. lexikalische Varianten) interpretiert.

Im GLex sind einige Gebärden als Ausführungsvarianten aufgeführt, die aufgrund ihres Bildes in bestimmten Kontexten auch als Modifikationen interpretiert werden können, z.B. BLUT1A (Bild: Blut fließt aus der Hand) und BLUT1D (Bild: Blut fließt aus der Nase oder dem Mund). Die Verwendung dieser Gebärden in unserem Korpus deutet jedoch darauf hin, dass beide Gebärden ganz allgemein für die Bedeutung „Blut“ lexikalisiert sind und normalerweise ohne Bedeutungsveränderung gegeneinander ausgetauscht werden können. Daher haben wir diese beiden Formen als Ausführungsvarianten und nicht als Modifikationen interpretiert und glossiert. Im konkreten Kontext ist es natürlich möglich, dass die Ausführungsstelle an der Nase wieder absichtsvoll eingesetzt wird, um auszudrücken, dass jemand aus der Nase blutet.

In einigen Fällen gibt es Paare von Gebärdenformen, die für die gleiche Bedeutung benutzt werden und die das gleiche Bild darstellen, wobei jedoch ein für die Bedeutung wichtiger Körperbezug bei der einen Gebärde als Ausführungsstelle mit in die Gebärdenform integriert wird, während die andere Gebärde im neutralen Raum z.B. entweder an der nichtdominanten Hand oder an einem vorgestellten, aber nicht sichtbaren anderen Körperstelle ausgeführt wird. Solche Gebärdenpaare, die sich nur in der Perspektive ihrer Darstellung voneinander unterscheiden, nennen wir perspektivische Varianten. Wir interpretieren sie als Ausführungsvarianten und glossieren sie entsprechend. Einige Beispiele für perspektivische Varianten sind: ZÄPFCHEN1A und ZÄPFCHEN1B, BETTPFANNE1A und BETTPFANNE1B sowie ZAHNFÜLLUNG1A und ZAHNFÜLLUNG1C.

Bei einigen Gebärden, die sich auf Körperstellen unterhalb des Oberschenkels beziehen, gibt es Ausführungsvarianten, die sich dadurch unterscheiden, dass im Sitzen eine Ausführungsstelle unmittelbar an der entsprechenden Körperstelle möglich ist, da sie im Sitzen erreicht werden kann. Im Stehen wird die Gebärde nur sehr tief in Körpernähe ausgeführt, aber ohne direkten Bezug zur nicht erreichbaren Körperstelle. Solche Ausführungsvarianten, die sich durch die Position des Gebärdenden ergeben, unterscheiden wir bei der Glossierung nur durch ein an die Glosse angehängtes „-im-Sitzen“ bzw. „-im-Stehen“, z.B.: RISS12A-im-Sitzen und RISS12A-im-STEHEN.

Formgleiche und formähnliche Gebärden

Auch Gebärden, die keine Modifikationen oder Ausführungsvarianten voneinander sind, können sich sehr ähnlich sehen oder sogar dieselbe Form haben. Solche weitergehenden Formähnlichkeits- oder Formverwandtschaftsbeziehungen, die nicht über die Glossierung erfasst sind, werden in den Gebärdeneinträgen (GLOSSEN: Konventionelle Gebärden) als Verweise auf formähnliche und formgleiche Gebärden aufgeführt. Im GLex gibt es ca. 3000 Verweise auf formähnliche oder formgleiche Gebärden.

In vielen Fällen ist die Formähnlichkeit von Gebärden nicht zufällig. Sie lässt sich darauf zurückführen, dass die Formen solcher Gebärden auf gleichen oder ähnlichen Bildern beruhen oder auf gemeinsame Bildelemente zurückgreifen. Somit besteht zwischen formähnlichen Gebärden oft nicht nur eine formale Ähnlichkeit, sondern auch eine durch das Bild begründete Verwandtschaft.

Formähnliche Gebärden können auf verschiedene Weise über ihre Bilder miteinander in Beziehung stehen. Ihren Formen können ähnliche Bilder zugrunde liegen wie bei VIRUS und HÖRNER1A. In einigen Fällen sind die Bilder zweier Gebärden nicht nur ähnlich, sondern genau entgegengesetzt oder umgekehrt wie bei EREKTION1A und IMPOTENZ, oder NACHT und KLAR. Nicht immer gehen umgekehrte Bilder auch mit entgegensetzten (antonymen) Bedeutungen einher (z.B. die Gebärden FRESSEN1B und GESCHICHTE2). Manchmal beruhen formähnliche Gebärden wie z.B. ABSTRICH1A und ABSTRICH2A auf dem gleichen Bild, das jedoch durch unterschiedliche Bilderzeugungstechniken realisiert wird. Häufig ähneln sich die Formen von Gebärden, wenn sie in einzelnen isolierten Bildelementen übereinstimmen wie z.B. bei WISSENSCHAFT und SORGEN2A. In einigen Fällen sind die der Form zugrunde liegenden Bilder und damit auch die Beziehungen formähnlicher Gebärden unklar wie bei LASSEN1 und RECHT1A. Es gibt auch Formähnlichkeiten wie bei RISIKO2 und BLUT1D, die sich zufällig ergeben und nicht auf der Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Bilder beruhen. Über die Beschreibung des ikonischen Gehalts der jeweiligen Gebärden lässt sich auf die Art ihrer Beziehung zueinander schließen.

Wir halten den Hinweis auf über das Bild verwandte formähnliche Gebärden für ein wichtiges Element der lexikographischen Beschreibung, da auf diese Weise die in der Ikonizität begründeten Beziehungen zwischen Gebärden ansatzweise nachvollziehbar werden. Wir sind uns jedoch bewusst, dass dies nur ein erster Versuch sein kann, die Vielschichtigkeit der Struktur des Wortschatzes einer Gebärdensprache angemessen zu beschreiben.

In den Gebärdeneinträgen wird nicht nur auf über das Bild verwandte, formähnliche Gebärden verwiesen, sondern auch auf formähnliche und formgleiche Gebärden, deren Ähnlichkeit rein zufällig ist. Formgleiche Gebärden wie z.B. ZERFRESSEN1 und KRABBELN1A sind in getrennten Gebärdeneinträgen mit unterschiedlichen Glossen beschrieben, da wir sie als homonyme Gebärden betrachten. Solche Gebärden haben zwar dieselbe Form, unterscheiden sich jedoch in ihren der Form zugrunde liegenden Bildern, in ihrem Bedeutungsumfang und ihrer Verwendung (z.B. im Modifikationsverhalten), sodass sie am besten als unterschiedliche, nicht verwandte Gebärden beschrieben werden können.

Die Verweise auf formähnliche und formgleiche Gebärden ermöglichen dem Benutzer, gezielt ein Gefühl für relevante Formunterschiede zu entwickeln und Verwechslungen zu vermeiden. Darüber hinaus können die Verweise auch für eine weitere Suchstrategie nach der Gebärdenform genutzt werden: Eine Gebärde, deren Bedeutung dem Benutzter nicht bekannt ist, lässt sich ggf. auch über die Verweise im Eintrag einer bekannten formähnlichen Gebärde suchen und finden.

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