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1. Einleitung

Bekanntermaßen ist bisher keines der weltweit vorgeschlagenen Verschriftungssysteme (Transkriptionssysteme und Gebrauchsschriften) für Gebärdensprachen in nennenswertem Gebrauch. Dies gilt auch für HamNoSys, das für den wissenschaftlichen Kontext gedacht ist, und zwar vorrangig mit dem Ziel "phonetisch genauer" Transkription. In anderen Kontexten wissenschaftlichen Arbeitens (Notieren gebärdensprachlicher Stichwörter o.ä.) findet es wenig Anwendung; insbesondere greifen auch Personen, die problemlos mit HamNoSys transkribieren, in anderen Kontexten nicht auf dieses System zurück, sondern verwenden Umschreibungen in deutscher Sprache o. ä. Auch Schriftentwürfe, die explizit als Gebrauchsschrift intendiert sind (wie derjenige von Papaspyrou 1990), konnten sich bisher nicht als praktische Alternative etablieren, ohne daß im einzelnen die gebrauchstechnischen und systematischen Gründe hierfür bekannt wären.

Auch wenn bisher nicht klar ist, ob eine Gebärdensprach-Gebrauchsschrift für die alltägliche Verwendung in beliebigen Kontexten überhaupt sinnvoll oder möglich ist (inwieweit wird sie von den Gehörlosengemeinschaften gewünscht?), wollen wir eine "Gebrauchsschrift" für wissenschaftsalltägliche Einsatzzwecke, die nicht den Genauigkeitsanspruch einer phonetischen Transkription beinhalten, zur Diskussion stellen. Dieses Modell soll dazu dienen, praktische Erfahrungen und Daten zu sammeln. Es handelt sich also hierbei nicht um einen Vorschlag für eine Gebrauchsschrift, vielmehr um die Kombination zweier existierender Systeme mit dem Ziel, Interessierten ohne großen Einarbeitungsaufwand und dennoch mit einem gewissen Verfremdungseffekt ("Aha-Erlebnisse"?) eine Arbeits- und Diskussionsgrundlage anzubieten.

Die Grundidee war dabei, den im Hause entwickelten und gut bekannten Zeichensatz von HamNoSys mit einem expliziten Gebrauchsschrift-Ansatz, dem ebenfalls am Hamburger Zentrum entwickelten System von Papaspyrou, zu koppeln. Die Ikonizität des HamNoSys-Zeichensatzes wurde dabei im Vorwege als vorteilhaft betrachtet und war ausschlaggebend dafür, ihn anstelle des in Papaspyrou 1990 verwendeten lateinischen Alphabets einzusetzen. Die darin enthaltene Annahme, der ikonische Zeichensatz sei benutzerInnenfreundlicher (beim Lesen? beim Schreiben?), muß in der weiteren Arbeit überprüft werden.

Die Charakteristika der beiden Systeme bedingen selbstverständlich Einzelheiten unseres Modellvorschlags und insofern auch mögliche Einsichten und Ergebnisse der praktischen Auseinandersetzung damit. Ergänzend wäre insbesondere folgenden Hinsichten nachzugehen:


  • HamNoSys und Papaspyrou 1990 basieren auf der Reihung von Segmenten nach dem Alphabet-Prinzip. Demgegenüber bietet eine Schrift wie Sutton Sign Writing eher "holistische" Schriftsymbole, die möglicherweise als beim Lesen adäquater, da der Perzeption einer gebärdensprachlichen Äußerung ähnlicher, betrachtet werden.
  • Die Anwendung des Prinzips der Reihung von Segmenten und die Auswahl der entsprechenden Symbole sind in HamNoSys und in Papaspyrou 1990 (wie unseres Wissens in den meisten bisher vorgeschlagenen Gebärdensprach-Verschriftungssystemen) dem phonographischen Prinzip vieler Lautsprachschriften verpflichtet, allerdings ohne damit deckungsgleich zu sein. Welche Schriftcharakteristika und welche Gebrauchsbedingungen ergeben sich aus dem stark "morphophonologischen" Zug von Gebärdensprachen?
  • Wie würde sich demgegenüber eine Gebärdensprach-Gebrauchsschrift nach semographischem Prinzip ausnehmen, die "Inhalte", nicht aber vorwiegend Elemente der zweiten Gliederungsebene notiert? (Eine Zentrumsmitarbeiterin machte uns aufmerksam auf eine i. E. für Gebärdensprachen erprobenswerte Form, die an Systeme der Notationstechnik für DolmetscherInnen angelehnt wäre.)
  • HamNoSys und Papaspyrou 1990 konzentrieren sich auf die Verschriftung der manuellen Komponente von Gebärden. Welche Auswirkungen die Vernachlässigung der übrigen Komponenten auf die Handhabbarkeit eines Schriftsystems hat, bleibt zu untersuchen.
  • Letztlich müßte das angestrebte Ziel einer Gebärdensprach-Gebrauchsschrift als solches expliziert und kritisch hinterfragt werden. Welche praktischen Ziele und Funktionen können mit welchen Typen von Schriftsystemen erreicht werden (Festhalten von Gebärden in Lernzusammenhängen, Notizen für private Zwecke, brieflicher Austausch, Zeitungen etc.)? Was tut man eigentlich, wenn man für die nicht-verschriftete Sprache einer Sprachgemeinschaft eine Schrift ausarbeitet (Stichworte: verändernde Einflüsse auf die Sprache, Normfestlegung und -kodifizierung, Literalität vs. Oralität ­ für Gebärdensprachen: "Gestualität"? ­ etc.)?

    2. Beziehung des Systems X zu Papaspyrou 1990 und HamNoSys
    3. Handformen
    4. Lokalitäten
    5. Bewegungen
    6. Zweihändigkeit
    7. Aufbau der Notation einer Einzelgebärde
    8. Interpunktion
    9. Literatur
    10. Beispiele