Vorwort

Das "Fachgebärdenlexikon Psychologie" wurde im Rahmen eines zweijährigen Projekts vom Bundesarbeitsministerium gefördert. Für über 900 Begriffe aus sieben Grundlagenfächern der Psychologie wurden über 1200 Gebärden aufgenommen, mehr als zwei Drittel wurden empirisch erhoben, für knapp ein Drittel der Begriffe wurden neue Gebärden entwickelt.

Gedacht ist das Lexikon in erster Linie für gehörlose Studierende und DolmetscherInnen. Es bietet jedoch auch für alle Personen, die Gebärdensprache in psychologischen Zusammenhängen anwenden (Psychologen, Mediziner, Pädagogen, Sozialpädagogen / Sozialarbeiter und andere), wertvolle Informationen und Anregungen. Ähnlich wie bei seinem Vorläufer, dem "Fachgebärdenlexikon Computer" 1994 (als CD-ROM: "Lexikon für Computerbegriffe" 1993) wird damit der Versuch unternommen, für eine wissenschaftliche Disziplin ein einheitliches gebärdensprachliches Fach-Vokabular einzuführen.

Das "Fachgebärdenlexikon Psychologie" ist als zweisprachiges Wörterbuch angelegt. Für einen Fachbegriff werden ein oder mehrere Gebärden gezeigt (insgesamt 1270 Gebärden für 902 Begriffe). In der Buchversion sind die Einträge alphabetisch nach den Begriffen geordnet, es gibt keinen zweiten Teil, in dem die Gebärden nach cherologischen Gesichtspunkten (Handformen) angeordnet sind wie etwa im Wörterbuch der Britischen Gebärdensprache (Brien 1992). Dies entspricht unserem Vorgehen, ausgehend von einer Liste ausgewählter Fachbegriffe nach geeigneten Gebärden zu suchen. Das "Fachgebärdenlexikon Psychologie" ist daher eher als Übersetzungshilfe vom Deutschen in die Deutsche Gebärdensprache (DGS) zu benutzen als umgekehrt. Die vorliegende HTML-Version des Lexikons enthält die Transkriptionen sämtlicher Gebärden nach dem Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen (HamNoSys) (Hanke u. a.) und erlaubt damit die Suche nach Gebärden unabhängig von den lautsprachlichen Begriffen. Es kann nach den Parametern Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung oder einer Kombination dieser Parameter gesucht werden.

Im "Fachgebärdenlexikon Psychologie" wurde der Versuch unternommen, den gebärdensprachlichen Anteil transparent zu machen, zum einen durch die Unterscheidung zwischen neu entwickelten und empirisch erhobenen Gebärden (s. Aufbau der Lexikoneinträge), zum anderen durch Anmerkungen zu grammatischer Verwendung, Dialektvarianten und Hinweisen zur Ausführung (s. Anmerkungen zur Form) sowie durch den Verweis auf formgleiche und formähnliche Gebärden (s. Verweis auf formgleiche und formähnliche Gebärden). Die Begriffsliste wurde von gehörlosen und hörenden Studierenden des Faches Psychologie an der Universität Hamburg erstellt, wobei Anregungen aus der Gehörlosenpädagogik sowie der psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit mit gehörlosen Personen berücksichtigt wurden. Dabei wurde die einführende Literatur der sieben Fachgebiete Allgemeine Psychologie, Biopsychologie, Differentielle Psychologie, Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie, Klinische Psychologie, Kognitive Psychologie und Sozialpsychologie zugrunde gelegt und mit bereits existierenden psychologischen Fachlexika abgeglichen (s. Bibliographie). Ziel war es, bei einer vorgegebenen Obergrenze von ca. 1000 Begriffen ein Basisvokabular auszuwählen, das für ein Psychologiestudium unerläßlich ist. Eigene Erfahrungen der Mitarbeiter aus ihrem Studium flossen in die Auswahl mit ein. Systematische Gesichtspunkte konnten nur sehr begrenzt berücksichtigt werden.

Ausgehend von einer vorläufigen Begriffsliste führten wir mit fünf gehörlosen Gewährsleuten (s. Anm. 1.), die ausreichend gebärdensprach- und fachkompetent sind, eine empirische Erhebung durch. Die gehörlosen Mitarbeiter führten zunächst mit jeder Person ein zwei- bis dreistündiges vorstrukturiertes Gespräch, in dem gezielt psychologisch relevante Themen angesprochen wurden. Dennoch sollte das Gespräch den Charakter einer natürlichsprachlichen Gesprächssituation nicht verlieren. Danach fragten wir bei jeder Person die Gebärden ab, die sie in einer Voruntersuchung anhand der vorläufigen Begriffsliste als ihr bekannt oder geläufig angaben (Erhebung von Einzelgebärden). Abschließend wurde anhand eines Fragebogens in einem kurzen Interview der sprachliche und soziale Hintergrund der Person erfragt. Alle Gespräche und das Abfragen der Einzelgebärden wurden auf Video aufgezeichnet. Zusätzlich wurden Gebärden berücksichtigt, die die gehörlosen Mitarbeiter (s. Anm. 2.) für die vorgesehenen Fachbegriffe schon regelmäßig benutzten.

Die Auswertung der Videos ergab über 3600 einzelne Vorkommnisse von Gebärden, die sich auf 760 der vorläufig ausgewählten Fachbegriffe verteilten. Die Verteilung der Vorkommnisse auf die jeweiligen Begriffe war ungleichmäßig, im Extremfall kamen 22 Gebärdenformen von 6 Informanten für einen lautsprachlichen Begriff zusammen. Aus den Gesprächsvideos konnten ca. 500 Gebärdenformen für die Auswahl berücksichtigt werden.

Die ca. 3600 ausgewerteten Videosequenzen bildeten die Grundlage für die Auswahl der geeigneten Gebärden. Gelegentlich wurden die sog. Blauen Bücher (Starcke/Maisch 1977, Maisch/Wisch 1988a, 1988b, 1989, 1994) zu Rate gezogen. Ca. 1200 erhobene Gebärden dienten als Vorlage für die im "Fachgebärdenlexikon Psychologie" gezeigten Gebärden, davon konnten ca. 800 Gebärden direkt übernommen werden, der Rest diente als Vorlage für die Gebärdenentwicklung. Damit wurden durch die empirische Erhebung mehr als zwei Drittel der vorgesehenen Fachbegriffe abgedeckt. 175 der 1270 gezeigten Gebärden sind als Vorkommen in einem natürlichsprachlichen Kontext (Gesprächsvideos) belegt.

Für knapp ein Drittel der Begriffe mußten neue Gebärden entwickelt werden. Dabei kam es vor allem darauf an, den natürlichsprachlichen Prozeß der Entstehung neuer Gebärden nachzuempfinden. Es sollten Gebärden gefunden werden, die die begriffliche Bedeutung in ein unmittelbar einleuchtendes Bild fassen wie z.B. Netzhaut: Die Handform deutet die netzartige Struktur an (vgl. die Gebärde NETZ), Ausführungsstelle und Bewegung die anatomischen Gegebenheiten. Ebenso wurden irreführende Anlehnungen an die gesprochene Sprache vermieden, wenn, wie z.B. bei bestimmten Komposita, die Wörter von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ablenken. (Der 'Gesichtssinn' hat nichts mit "Gesicht" zu tun.)

Konnte keine Gebärde gefunden werden, die die begriffiche Bedeutung bildlich erfaßt, wurde versucht, ausgehend vom lautsprachlichen Wort eine Gebärde zu finden. Wie naheliegend es sein kann, sich zunächst auf die deutschen Wörter zu beziehen, zeigt die gebräuchliche Gebärde Übertragung: Zeigefinger und Daumen fassen etwas seitlich von der gebärdenden Person Liegendes an und bewegen es zur Mitte. Die Bedeutung dieser Gebärde kann im jeweiligen Kontext unterschiedlich interpretiert werden. Sie kann bedeuten, daß etwas Konkretes von einem Ort an einen anderen hinübergetragen wird, daß ein bestimmtes Verhalten von einer Situation auf eine andere übertragen wird oder daß in einer psychotherapeutischen Situation der Klient / die Klientin Gefühle auf den Therapeuten / die Therapeutin überträgt, die eigentlich auf andere Personen gerichtet sind. Die verschiedenen, über den bildhaften Gehalt der Gebärde hinausgehenden Bedeutungen gehen in diesen Fällen selbstverständlich auf den Bezug zum lautsprachlichen Wort zurück, das in entsprechenden Äußerungen häufig lautlos artikuliert wird. Der Bezug zur Lautsprache kommt auch in Gebärden wie Negativismus zum Tragen: Die Gebärde MINUS in der Bedeutung von "negativ" reicht aus als Hinweis auf den damit gemeinten Fachbegriff in Verbindung mit dem lautlos artikulierten Wort.

Bestimmte im Lexikon enthaltene Begriffe können in der DGS auf verschiedene Weise übersetzt werden, je nachdem, ob z.B. das Stottern beim Sprechen (vgl. Stottern) oder beim Gebärden gemeint ist. Letzteres führt zu einer völlig anderen Gebärde: Sie ähnelt der Form Gebärde, die Bewegung wird jedoch stark verlangsamt und abgehackt ausgeführt. Ähnliches gilt für 'Spracherwerb' und 'Konfabulation'. Im "Fachgebärdenlexikon Psychologie" wurden solche Gebärden, die die gebärdensprachspezifische Bedeutung eines Begriffes konkretisieren, nicht mit aufgenommen, da noch nicht abzusehen ist, ob sich diese Gebärden durchsetzen werden. Lediglich für 'Interview' gibt es eine bereits unter Gehörlosen verbreitete gebärdensprachspezifische Form (vgl. Interview (Var. 2/2)).

Für die Auswahl geeigneter Gebärden war nicht nur die Anzahl der Belegstellen ausschlaggebend, sondern auch der Wunsch, möglichst differenzierte Gebärden für die verschiedenen Begriffe bzw. Sachverhalte zu verwenden. Die Entscheidung zwischen empirischem und sprachnormativem Vorgehen wurde von Fall zu Fall getroffen, wobei die durch die Erhebung gewonnene Vielfalt der gebärdensprachlichen Mittel als Ausgangspunkt und Korrektiv für die Gebärdenentwicklung diente. Letztendlich ausschlaggebend war die Intuition und das Sprachgefühl der gehörlosen Mitarbeiter.

Die im "Fachgebärdenlexikon Psychologie" dargestellten Gebärden sind als mögliche Entsprechungen oder Übersetzungen der lautsprachlichen Fachbegriffe zu verstehen. Sie wurden in Abhängigkeit von den lautsprachlichen Begriffen oder Texten erhoben oder entwickelt, was sich zum Teil in ihrer Form niederschlägt. Andererseits muß die Bedeutung der Gebärde jedoch nicht auf den lautsprachlichen Begriff beschränkt sein.

Die vorgenommene Unterscheidung zwischen neuen, belegten und bekannten Gebärden soll es vor allem gebärdensprachkompetenten Personen ermöglichen, selbst über Wert oder Unwert des Lexikons zu entscheiden. Die gezeigten Gebärden, vor allem die neu entwickelten, sind als Hilfestellung und Anregung gedacht und sollten nicht unkritisch als verbindliche Norm aufgefaßt werden, auch wenn die Tatsache, daß diese Formen in einem "Fachgebärdenlexikon" veröffentlicht werden, dies nahelegt. In diesem Zusammenhang möchten wir betonen, daß die empirische Erhebung gezeigt hat, daß es in der DGS genügend produktive Mittel gibt, sprachliche bzw. fachsprachliche Inhalte wiederzugeben. Die Kommunikation unter Gehörlosen auch über komplizierte psychologische Themen wird nicht an dem vermeintlich ungenügenden Vokabular der DGS scheitern. Die Herausgabe dieses Lexikons sollte daher nicht als Argument für die These verstanden werden, daß es in der DGS, wie im Deutschen, konventioneller Zeichen im Sinne eines festgelegten Fach-Vokabulars bedarf. Es waren vielmehr praktische Erwägungen, die uns zur Arbeit an diesem Lexikon bewogen haben. In einer Situation, in der Gehörlose verstärkt akademische Berufe ergreifen wollen, haben wir uns dafür entschieden, nicht abzuwarten, bis sich die DGS im natürlichen Prozeß der Sprachentwicklung und des Sprachwandels den Erfordernissen anpaßt. Die in dem Lexikon enthaltenen neu entwickelten Gebärden sollen in erster Linie Hilfestellungen geben für die konkreten Probleme im Studienalltag, die bei der Übersetzung fachsprachlicher Inhalte in DGS und umgekehrt auftreten.

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen bedanken, die am Zustandekommen dieses Lexikons mitgewirkt haben. Dr. Horst Ebbinghaus hat uns während der gesamten Erhebungs- und Auswertungsphase bis hin zu Fragen der Formulierung mit seinem Rat immer hilfreich zur Seite gestanden. Für die empirische Untersuchung stellten sich Dr. med. Ulrike Gotthardt-Pfeiff, Cortina Bittner, Gaby Rausch, Thomas Bierschneider und Gottfried Weileder als Gewährsleute zur Verfügung. Die gute Zusammenarbeit mit ihnen war eine große Hilfe für uns. Für die Auswertung der Gesprächsvideos fertigten Gabi Stegh, Meike Vaupel und Cornelia Wrege Übersetzungen ins Deutsche an, ohne die wir die Materialmengen in der kurzen Zeit nicht hätten bewältigen können. Schließlich möchten wir uns noch bei Dr. phil. Dipl.-Psych. Matthias Burisch, Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Kathrin Hänel, Dr. med. Jörg Schnoor, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Burger Heinze, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Gerhard Vagt bedanken, die sich bereitwillig für die inhaltliche Korrektur der Definitionstexte zur Verfügung stellten. Für die Begriffsauswahl gaben uns noch Gabi Stegh, Susanne v. Scheven-Hauck, Prof. Dr. phil Dipl.-Psych. Karl Dieter Schuck, PD Dr. phil. Bernd Ahrbeck und Dipl.-Psych. Leonhard Brosch wertvolle Hinweise.

Wer sich an ein Lexikon wagt, der ist vor Fehlern nicht gefeit, und auch in diesem "Fachgebärdenlexikon Psychologie" werden Fehler zu finden sein. Daher bitten wir darum, uns Fehler oder kritische Anmerkungen mitzuteilen, damit wir aus gemachten Fehlern lernen können und eine mögliche Neuauflage dahingehend korrigiert werden kann. Dies betrifft insbesondere den gebärdensprachlichen Teil. Dabei interessiert uns, ob es anstatt der von uns neu entwickelten Gebärden schon bereits gebräuchliche Gebärden gibt. Bitte teilen sie uns Ihre Meinung oder Anregungen unter folgender Adresse mit:

Zentrum für Deutsche Gebärdensprache
Gorch-Fock-Wall 7, D-20354 Hamburg
Tel.: 040/4123-6737, ST -6738, Fax: -6109
e-mail: Psych-Lex@sign-lang.uni-hamburg.de.