Wir haben uns, wie schon beim Fachgebärdenlexikon Tischler/Schreiner, auch beim Fachgebärdenlexikon Hauswirtschaft, im Folgenden HLex genannt, dazu entschlossen, die Ergebnisse unserer sprachwissenschaftlichen Analyse allen interessierten Benutzern zugänglich zu machen. Das alphabetisch nach Glossen sortierte Gebärdenverzeichnis enthält alle Gebärden, die im Lexikon vorkommen, sowie alle von uns gesammelten und erarbeiteten Informationen zu diesen Gebärden. Die Gebärden sind durch eine Glosse gekennzeichnet und ihre Form ist mithilfe des Hamburger Notationssystems für Gebärdensprachen (HamNoSys) notiert.
Im Folgenden gehen wir auf unsere Transkriptionskonventionen und einzelne Analyseschritte sowie theoretische Hintergrundüberlegungen näher ein und erläutern die Informationseinheiten, die im Gebärdenverzeichnis auftauchen.
Wir konnten 17 Gehörlose aus verschiedenen Bundesländern, die zum Hauswirtschafter/zur Hauswirtschafterin ausgebildet wurden und/oder in diesem Bereich arbeiten, für eine empirische Erhebung gewinnen. Mit jedem der 17 Informanten führten gehörlose Mitarbeiter zuerst anhand eines Fragebogens ein kurzes Interview durch, in dem der sprachliche und soziale Hintergrund der Person erfragt wurde. Danach folgte ein halb- bis einstündiges Gespräch. Darin wurden bestimmte Themenbereiche angesprochen, die im Zusammenhang mit der Ausbildung und der Ausübung ihres Berufs stehen. Diese Gespräche wurden bei der Wahl der Informanten, deren Gebärden transkribiert werden sollten, berücksichtigt. Bei der Transkription waren sie wichtig für die stilistische oder dialektale Einordnung der von einer bestimmten Person gezeigten Gebärden.
Wie beim Fachgebärdenlexikon Tischler/Schreiner wurde vor der Erhebung eine Begriffsliste der wichtigsten Fachbegriffe festgelegt (siehe Abschnitt Auswahl der Fachbegriffe und Begriffserklärungen). Aus methodischen Gründen wurden bei diesem Projekt Fachbegriffe und Abbildungen, die den jeweiligen Fachbegriff wiedergeben, getrennt abgefragt.1
Im Anschluß an das Gespräch wurde zuerst die Bildabfrage2, dann die Textabfrage3 durchgeführt. Jeder Informant sollte auf die gezeigte Abbildung oder das gezeigte Wort möglichst spontan mit einer Gebärde antworten. Alle Gespräche sowie die Abfragen wurden auf Video aufgezeichnet.
Vor der Transkription wurden alle Gespräche sowie die Bild- und Textabfragen von den gehörlosen Mitarbeitern gesichtet. Für jedes Gespräch wurde ein Inhaltsprotokoll angefertigt. Gleichzeitig wurde eine Einschätzung der gebärdensprachlichen Kompetenz des jeweiligen Informanten anhand verschiedener Kriterien vorgenommen.4
Anhand der Ergebnisse der Sichtung wurden von den 17 Informanten 11 ausgewählt5, deren Antworten auf die Bild- und Textabfrage das Datenkorpus darstellen.6
Die Aufnahmen wurden digitalisiert und an eine relationale Datenbank7 angebunden. Damit war ein gezielter und schneller Zugriff auf die Videoaufnahmen möglich. Die Transkription wurde von 8 gehörlosen Mitarbeitern direkt in der Datenbank vorgenommen. Ziel der Transkription war es, Vorkommnisse derselben Art in konsistenter Weise lexikalischen Einheiten zuzuordnen. Wir orientierten uns dabei am empirischen Forschungsansatz von Horst Ebbinghaus und Jens Heßmann sowie an der grundlegenden Analyse der lexikalischen Struktur von Gebärdensprachen am Beispiel der Australischen Gebärdensprache von Trevor Johnston und Adam Schembri.
Die gehörlosen Mitarbeiter entschieden, ob die in den Antworten der gehörlosen Informanten enthaltenen Gebärden gleich oder verschieden sind. Gebärden, im Sinne einer sprachlichen Form, die die gleiche Form und die gleiche Bedeutung haben, wurden mit derselben Glosse benannt (siehe Abschnitt Glossen). Unterscheiden sich Gebärden in Form oder Bedeutung, so müssen auch die Glossen verschieden sein. Die Mitarbeiter beurteilten weiterhin, ob es sich bei einem Vorkommnis um eine konventionelle oder produktive Gebärde handelt, wie deren Grundform aussieht, ob eine Abweichung von der Grundform eine individuelle oder regionale Variante ist oder ob eine Bedeutungsveränderung im Sinne einer Erweiterung der Bedeutung (Modifikation) vorliegt.
Zentraler Bestandteil der Datenbank ist ein Glossenlexikon, d. h. eine Liste aller in dem transkribierten Korpus vorkommenden Gebärden. Im Unterschied zur Transkription der Daten für das Fachgebärdenlexikon Tischler/Schreiner wurden viele konventionelle Gebärden hinsichtlich ihrer Verwendung (siehe Abschnitt Analyse konventioneller Gebärden) doppelt glossiert.8 Dadurch war es möglich, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Gebärden im Unterschied zu Wörtern in produktiver Weise verwendet werden, um eine spezifische Bedeutung auszudrücken. Dies geschieht zum einen durch den Rückgriff auf ihre Bildhaftigkeit (siehe unten), zum anderen durch den Gebrauch von deutschen Wörtern in Form von Mundbildern.9
Durch die doppelte Glossierung konnte die produktive Verwendung konventioneller Gebärden in der lexikalischen Analyse mit einbezogen werden, was bei der Transkription für das Fachgebärdenlexikon Tischler/Schreiner noch nicht möglich war. Der dort schon angelegte Versuch, Gebärden hinsichtlich ihres ikonischen Gehalts und ihrer Verwendung zu lexikalischen Einheiten zusammenzufassen, wurde damit konsequent weitergeführt. Das Ergebnis der hier vorliegenden lexikalischen Analyse ist dadurch jedoch nur eingeschränkt mit dem des vorhergehenden Projekts zu vergleichen.10 Im Folgenden gehen wir näher auf die Transkriptionskonventionen und die lexikalische Analyse ein.
Handzeichen sind visuell wahrnehmbare Gebilde in Raum und Zeit und eignen sich auf Grund dieser Formeigenschaften prinzipiell zur Darstellung von unbewegten und bewegten Bildern. Die meisten Gebärden sind bildhaft (ikonisch), d. h. in ihrer Form finden sich Aspekte des Gemeinten wieder. Die Form der Gebärde lässt sich auf ein Bild zurückführen, das in einem Zusammenhang mit der Bedeutung steht.
Das Bild einer Gebärde ist eine visuelle Vorstellung, die der Form einer ikonischen Gebärde zugrunde liegt und die beim Gesprächspartner wieder aktiviert werden kann. Diese den Gebärden zugrunde liegenden Bilder spielen eine Rolle bei der Entstehung und bei der Verwendung von Gebärden. Bildhaftigkeit stellt eine Besonderheit des Lexikons von Gebärdensprachen dar.
Im HLex wurden die den Gebärden zugrunde liegenden Bilder in vielen Analyseschritten berücksichtigt. Die Bildhaftigkeit spielt bei der Bildung produktiver Gebärden, bei der Identifikation und bei der bedeutungsrelevanten Veränderung konventioneller Gebärden (Modifikation) eine besondere Rolle.
Eine Glosse ist ein Name für eine Gebärde, der zur eindeutigen Identifizierung dieser Gebärde im Lexikon dient. Nach den in diesem Lexikon verwendeten Glossierungskonventionen ist eine Glosse eine komplexe Einheit, die aus verschiedenen Teilen bestehen kann: Alle Glossen enthalten ein deutsches Wort, den Glossennamen. Auf den Glossennamen können bis zu zwei Ziffern und, bei konventionellen Gebärden, ein Großbuchstabe folgen. Produktive Gebärden erhalten am Glossenanfang eine Kennzeichnung als produktive Gebärde (PROD.).
Das zentrale Element der Glosse ist der Glossenname, ein deutsches Wort, das auf die Bedeutung der Gebärde verweist. In manchen Fällen deckt sich die Bedeutung des deutschen Wortes nicht genau mit der Bedeutung der Gebärde. Deshalb sollte der Glossenname nur als Erinnerungshilfe und nicht als Bedeutungsangabe oder Übersetzung verstanden werden. Glossennamen werden mit Großbuchstaben geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um deutsche Wörter in ihrer eigentlichen Verwendung handelt.
Unter einer Gebärde verstehen wir eine Form, die als identifizierbare Einheit der DGS nach den Regeln dieser Sprache gebildet und verwendet wird. Unterschiedliche Gebärden erhalten auch unterschiedliche Glossen. Auf Grund unserer Analyse unterscheiden wir im Wesentlichen zwei Arten von Gebärden, nämlich produktive Gebärden und konventionelle Gebärden. Je nach Art der Gebärde unterscheidet sich der Glossenaufbau leicht.
produktive Gebärde | Glossenname | Synonym | Modifikation | Ausführungsvariante |
KLAR | ||||
KUCHEN | 3 | |||
GLAS | 1 | C | ||
FLECK | 2 | 1 | ||
GEWÜRZ | 1 | 1 | A | |
PROD. | ELEKTROSTATISCH | 2 | 0 | |
PROD. | TELESKOPSTANGE | 1 | 2 |
Aufbau der Glossen. Zu den Spaltenüberschriften und zu Besonderheiten bei der Glossierung produktiver Gebärden siehe entsprechende Abschnitte im folgenden Text.
Im HLex gibt es verschiedene Gebärden, die den gleichen Glossennamen haben, aber durch die erste Ziffer hinter dem Glossennamen unterschieden werden.
Dies ist dann der Fall, wenn es sich um synonyme Gebärden handelt. Z. B. kann die Bedeutung "Eimer" durch verschiedene Gebärden ausgedrückt werden: EIMER1, EIMER2 (mit den Varianten EIMER2A und EIMER2B) und EIMER3. Alle drei Gebärden unterscheiden sich in ihrer Form11. Betrachtet man die zugrunde liegenden Bilder dieser Gebärden, so zeigt EIMER1, wie man etwas an einem Griff festhält und trägt. Bei EIMER2A und EIMER2B wird ein zylinderförmiger Gegenstand oder Behälter gezeichnet. Bei EIMER3 wird ebenfalls ein Behälter oder ein Gefäß gezeichnet, jedoch auf eine andere Weise. Es handelt sich also um verschiedene Gebärden mit derselben Bedeutung (Synonyme), die deshalb den gleichen Glossennamen erhalten.
Nicht in jedem Fall handelt es sich jedoch bei Gebärden mit dem gleichen Glossennamen um Synonyme. In einigen Fällen ergibt sich der gleiche Glossenname, der auf die Kernbedeutung der Gebärde hinweisen soll, durch die unterschiedliche lexikalische Struktur von DGS und deutscher Lautsprache. Nicht immer deckt sich der Grad der Ausdifferenzierung von Bedeutungen in diesen beiden Sprachen. Deshalb erhalten manchmal Gebärden, die in DGS unterschiedliche Bedeutungen haben, trotzdem denselben, dem Deutschen entliehenen Glossenamen. Diese Gebärden weisen unterschiedliche Formen auf, haben verschiedene zugrunde liegende Bilder und unterschiedliche Bedeutungen. Um sie voneinander zu unterscheiden, erhalten sie (wie die Synonyme auch) eine unterschiedliche erste Ziffer direkt nach dem Glossennamen. Ein Beispiel hierfür sind die Gebärden DREHEN1A (Bild: einen Drehschalter betätigen) und DREHEN2 (Bild: etwas, z. B. ein Motor, dreht sich). So kann man sich mit DREHEN1A nicht auf den Spülvorgang in einer Geschirrspülmaschine beziehen. Mit DREHEN2 wiederum kann man nicht ausdrücken, dass man ein Programm an einer Waschmaschine einstellt.
Hinzu kommt, dass bei konventionellen Gebärden, die in verschiedenen Bedeutungen verwendet werden, sich aber auf das gleiche Bild beziehen (siehe Analyse konventioneller Gebärden), oft ein Glossenname gewählt wurde, der an das Bild erinnert, das der gemeinsame Kern aller Bedeutungen ist.
Bei konventionellen Gebärden kann die Grundform12 modifiziert werden, d. h. die Form der Gebärde wird verändert, um die Bedeutung zu erweitern oder zu spezifizieren. Eine Modifikation beruht immer auf einer Veränderung des Bildes. So kommt beispielsweise FLECK2 (Bild: ein kleines begrenztes Objekt auf einer Unterlage) auch mit einer leicht veränderten Form vor, die die Bedeutung "Fleck" spezifiziert: Die Gebärde FLECK21 wird am Oberkörper ausgeführt (Bild: ein kleines begrenztes Objekt auf der Kleidung am Oberkörper) und bedeutet "Fleck auf der Kleidung". Modifikationen einer Grundform werden durch eine zweite Ziffer nach dem Glossennamen gekennzeichnet: FLECK21 ist die erste Modifikation der Grundform FLECK2. Das durch die Modifikation bedeutungsrelevant veränderte Bild und ein Verweis auf die Grundform wird bei modifizierten Gebärden im Gebärdenverzeichnis angegeben.
Ausführungsvarianten sind konventionelle Gebärden mit geringfügigen Unterschieden in der Form, die das zugrunde liegende Bild und die Bedeutung der Gebärde nicht verändern. Im HLex werden Ausführungsvarianten durch einen Großbuchstaben am Ende der Glosse gekennzeichnet. Dazu ein Beispiel: Die Gebärden MESSER1A, MESSER1B und MESSER1C unterscheiden sich nur in der Handform. Alle drei haben die feste Bedeutung "Messer" und beruhen auf dem gleichen Bild, werden aber leicht unterschiedlich ausgeführt. Die rechte Hand stellt eine Messerklinge dar, die etwas (repräsentiert durch die linke Hand) schneidet. Alle drei verwendeten Handformen (Zeigehand , Streifenhand, Flachhand)13 sind unterschiedliche Arten, die Klinge darzustellen. Die linke Hand ist in ihrer Form der rechten Hand angepasst. Alle drei Formen sind in einem gebärdensprachlichen Kontext austauschbar, ohne dass sich die Bedeutung der Äußerung ändert. Wir fassen alle drei Formen als Varianten einer Gebärde auf.
Der Buchstabe zur Kennzeichnung der Ausführungsvarianten steht immer an letzter Stelle hinter einer Ziffer.
Im HLex sind einige als Ausführungsvarianten gekennzeichnete Gebärden aufgeführt, die auf Grund ihrer ikonischen Merkmale in bestimmten Kontexten auch als Modifikation interpretiert werden können. In unserem Korpus werden diese Gebärden jedoch so verwendet, dass sie austauschbar sind. Beispiel: FLIESEN2A (Bild: Fliesen an der Wand) und FLIESEN2B (Bild: Fliesen am Boden).
Die Glossen produktiver Gebärden beginnen immer mit "PROD.". Produktive Gebärden sind Formen, die im jeweiligen Kontext aus bestimmten Bausteinen spontan neu geschaffen werden, um durch ein Bild die intendierte Bedeutung auszudrücken. Es handelt sich bei ihnen also nicht um im Voraus verfügbare, feste Einheiten mit einer festgelegten Form. Es ist deshalb nicht sinnvoll, bei produktiven Gebärden von Grundformen, Modifikationen und phonologischen Varianten zu sprechen. Eine Modifikation setzt eine konventionell festgelegte Grundform voraus, die sich modifizieren läßt. Bei produktiven Gebärden läßt sich jedoch keine Grundform identifizieren oder bestimmen. Verschiedene produktive Gebärden, die erzeugt werden, um denselben Sachverhalt durch ein ähnliches Bild auszudrücken, sind im eigentlichen Sinn keine Modifikationen oder Ableitungen voneinander, sondern jeweils eigenständige, untereinander gleichwertige Formen. Aus diesem Grund erhalten produktive Gebärden mit demselben Glossennamen immer eine zweistellige Zahl. Ähnlich wie bei konventionellen Gebärden können produktive Gebärden den gleichen Glossennamen haben. In diesem Fall werden sie durch die erste Ziffer nach dem Glossennamen unterschieden, wenn es sich um verschiedene Bilder handelt, die zur Verdeutlichung desselben Sachverhaltes erzeugt werden und eine ähnliche Bedeutung ausdrücken. Z. B. unterscheiden sich die Bilder von PROD.ELEKTROSTATISCH10 (Bild: bei Berührung (rechte Hand) erhält man einen Stromschlag und zuckt zurück) und PROD.ELEKTROSTATISCH20 (Bild: Masse von Fasern erhebt sich über eine Oberfläche).
Alle unterschiedlichen Ausführungen desselben Bildes werden durch die zweite Ziffer voneinander unterschieden. Beispiele: PROD.FADENVERLAUF10 (Bild: mehrere Längsfäden an einem Kleidungsstück), PROD.FADENVERLAUF11 (Bild: Längsfaden an einem Kleidungsstück) und PROD.FADENVERLAUF12 (Bild: Querfaden an einem Kleidungsstück).
Konventionelle Gebärden sind Einheiten des Gebärdenschatzes (Lexikon), die eine relativ stabile Form haben und dazu verwendet werden, eine bestimmte Bedeutung auszudrücken oder mit einem Bedeutungsbereich verbunden sind. Form und Bedeutung sind durch die in der Sprachgemeinschaft üblichen Verwendung (Konvention) festgelegt. Konventionelle Gebärden sind für den Sprachbenutzer als fertige Einheiten verfügbar, im Gegensatz zu produktiven Gebärden, die im jeweiligen Kontext für eine bestimmte Bedeutung spontan neu gebildet werden.
Konventionelle Gebärden sind meistens, jedoch nicht immer bildhaft (siehe Bildhaftigkeit (Ikonizität) von Gebärden). Ein Beispiel für eine ikonische Gebärde ist MILCH2C. Dieser Gebärde liegt das Bild des Melkens zugrunde. Ein Beispiel für eine nichtikonische Gebärde ist ZWECK. Bei ikonischen Gebärden ist das Bild manchmal veraltet (z. B. FERNSEHER14) oder es werden prototypische Dinge abgebildet, die nicht unbedingt dem konkreten Gegenstand entsprechen müssen. Die Ausführung kann stilisiert oder ungenau sein, dennoch bleibt die Gebärde identifizierbar.
Um eine konventionelle Gebärde zu identifizieren, muss man das Bild nicht kennen. Bei ikonischen Gebärden ist ein Rückgriff auf das Bild zwar möglich, jedoch zum Verstehen nicht erforderlich. Um eine Gebärde zu modifizieren, wird in der Regel jedoch auf das Bild zurückgegriffen (siehe Abschnitt Glossen).
Konventionelle Gebärden können sich hinsichtlich der Größe des ihnen zugeordneten Bereichs von Bedeutungen und ihrer Kombinationsmöglichkeit mit verschiedenen Mundbildern unterscheiden.
Viele konventionelle Gebärden haben auf der Bedeutungsseite nicht eine einzige, eng umgrenzte Bedeutung, sondern sind durch Konvention mit einem ganzen Bereich zusammenhängender Bedeutungen verbunden (Bedeutungsbereich). Aus diesem Bereich der potenziell möglichen Bedeutungen wird im Verwendungskontext eine spezifische Bedeutung realisiert. Die Gebärde TRINKEN1A z. B. umfasst Bedeutungen aus dem Bereich "trinken, Getränke". In einer Äußerung kann diese Gebärde z. B. mit der Bedeutung "Tee", in einer anderen Äußerung mit der Bedeutung "Kakao" gebraucht werden.15 Werden Bedeutungen auf diese Weise frei aus dem Bedeutungsbereich ausgewählt, so nennen wir dies produktive Verwendung. Die spezifische Bedeutung wird häufig durch ein Mundbild16 festgelegt. Die Möglichkeit bildhafte Gebärden und Mundbilder zu kombinieren, ist der entscheidende Faktor dafür, dass konventionelle Gebärden in der DGS so häufig produktiv verwendet werden. Gebärde und Mundbild kontextualisieren sich wechselseitig17: Eine Gebärde wie z. B. SCHNABEL wird üblicherweise in der Bedeutung "Huhn" verwendet. Sie kann jedoch auch dafür verwendet werden, eine andere Vogelart zu bezeichnen. Ein Mundbild wie z. B. "stieglitz" ist ohne die Gebärde schwer abzulesen. Durch die Gebärde wird der Bereich der möglichen Wörter jedoch stark eingegrenzt, daher ist das Mundbild leichter zu identifizieren. Umgekehrt ermöglicht das Mundbild, dieselbe Gebärde für unterschiedliche Bedeutungen aus dem Bedeutungsbereich "Vogel" zu verwenden. Manchmal reicht der Kontext allein aus, die Bedeutung zu spezifizieren. In solchen Fällen tritt häufig kein Mundbild hinzu.
Innerhalb des Bedeutungsspektrums konventioneller Gebärden gibt es neben produktiv erzeugten Bedeutungen auch solche, die fester im alltäglichen Sprachgebrauch verankert sind. Dies sind konventionelle Verwendungen einer Gebärde, die ebenfalls zu dem Bereich potenzieller Bedeutungen gehören. Sie bilden innerhalb dieses Bereichs feste Form-Bedeutungs-Paare. Solche konventionellen Verwendungen einer Gebärde erhalten im HLex eine zusätzliche zweite Glosse, z. B. SAFT4. Diese zweite Glosse ist der Glosse, die den Bedeutungsbereich angibt (TRINKEN1A), untergeordnet. Sie dient dazu, im Gebärdenverzeichnis von den konventionellen Verwendungen zur eigentlichen Gebärde zu gelangen, deren Glossenname sich nicht unmittelbar aus der Bedeutung der jeweiligen konventionellen Verwendung erschließt.
Die Menge der potenziellen Bedeutungen ist nur durch den Bereich begrenzt, der sich durch das Bild ergibt. Innerhalb dieses Bereichs ist sie prinzipiell offen. Das durch die Gebärde vermittelte Bild passt im weitesten Sinn zu allen potenziellen Bedeutungen. Zeigt das Bild z. B. eine Tätigkeit, so kann die Gebärde auch für das bei der Tätigkeit verwendete Instrument verwendet werden. Dasselbe gilt auch für die Rolle, die eine Person in einer Handlung inne hat, und ähnliche Verwendungen.
Beispiel:
RÜHREN14 (Bild: einen Kochlöffel festhalten und mit ihm etwas umrühren) ist eine konventionelle Gebärde, die mit folgenden Bedeutungen vorkommen kann:
Im Datenkorpus gibt es Gebärden, die mehrere konventionelle oder auch produktive Verwendungen haben. In diesen Fällen haben wir das der Gebärde zugrunde liegende Bild beschrieben, da das Bild den Bedeutungsbereich der Gebärde absteckt und deutlich macht, wie diese Verwendungen zusammenhängen. In einigen Fällen ist nur eine dieser Verwendun gen für das Lexikon ausgewählt, das Bild wird dennoch im Gebärdenverzeichnis beschrieben. Uns ist natürlich bewusst, dass diese Art von Information nur ein erster Beschreibungsversuch und somit im Einzelfall unzutreffend sein kann.
Bei der Beschreibung der Bilder werden ähnlich wie bei produktiven Gebärden die einzelnen Bildelemente genannt.
Darüber hinaus gibt es auch konventionelle Gebärden, die nicht in der gleichen Weise gebildet sind wie produktive Gebärden. Das Bild mancher konventioneller Gebärden setzt sich aus einzelnen Elementen zusammen, die Formaspekte anderer, semantisch verwandter Gebärden aufnehmen. Diese Formaspekte sind daher mit einer vagen Bedeutung oder Konnotation aufgeladen.
Die Handform Faust z. B. kommt in vielen Gebärden, die etwas mit Kraft, Gewicht, Masse, Krafteinwirkung oder Geschwindigkeit zu tun haben, vor (LEISTUNG2, SCHNELL2, FEST1A, UNFALL1B, WAAGE1B, MACHEN).
Die Ausführungsstelle am Mundbereich kommt häufig im Zusammenhang mit Nahrung, Nahrungsaufnahme und Geschmacksinn vor (SÄURE1, SÜSS, SCHMECKEN1, WARM1B), die Stirnregion mit Denken, Gedächtnis, Wissen und kognitiven Fähigkeiten und Tätigkeiten.
Bei den Gebärden HAUPT1A und LEISTUNG2 kann man die Aufwärtsbewegung mit "aufstrebend, hervorgehoben" und Ähnlichem assoziieren.
Einzelne Bildelemente können durchaus noch sinnvoll gedeutet werden, ohne dass die Gebärde ein vollständiges Bild zeigt. In diesen Fällen werden die Bildelemente und die möglichen Assoziationen aufgeführt "(Bildelemente mit möglichen Assoziationen)".
Beispiele:
SÄURE1: Bildelemente mit möglichen Assoziationen: Ausführungsstelle: Zusammenhang mit Nahrung oder Geschmackssinn; Bewegung: kratzend, aggressiv; Handform: Frucht (z. B. Zitrone) festhalten oder spitze Gegenstände (verletzend).
SÜSS: Bildelemente mit möglichen Assoziationen: Ausführungsstelle: Zusammenhang mit Nahrung, Geschmackssinn.
Es gibt auch einige wenige Gebärden, die zwar mehrere zusammenhängende Bedeutungen und gegebenenfalls auch in diesen Rahmen passende produktive Verwendungen zulassen, deren Bild jedoch nicht mehr nachvollziehbar ist. In diesen Fällen haben wir dies mit "Kein erkennbares Bild" gekennzeichnet.
Beispiele:
NORMAL: Kein erkennbares Bild.
ZWECK: Kein erkennbares Bild.
Einige der konventionellen Gebärden lassen sich einer von vier grammatischen Kategorien zuordnen: In Anlehnung an Johnston (1989; 1993a,b) wurden dafür die Bezeichnungen Richtungsgebärde, Orientierungsgebärde, (freie) Positionsgebärde und körperbezogene Positionsgebärde verwendet. Die grammatische Kategorie einer Gebärde wird im Glossenverzeichnis angegeben.
Ein klassisches Beispiel für eine vollständig gerichtete Gebärde ist GEBEN1: Die Richtung der Bewegung kann im Gebärdenraum variieren. Die Bewegung beginnt bei der Person, die etwas gibt (Subjekt bzw. Agens) und sie endet bei demjenigen, dem etwas gegeben wird (direktes Objekt bzw. Patiens). Entscheidend ist die Richtung der Gebärde. Bei einigen Richtungsgebärden ist nur der Endpunkt frei variierbar (endgerichtete Gebärden), bei anderen nur der Anfangspunkt (anfangsgerichtete Gebärden). Eine genauere Unterteilung in vollständig gerichtete, end- und anfangsgerichtete Gebärden wird im HLex nicht vorgenommen. Weitere Beispiele für Richtungsgebärden sind: HELFEN1, HELFEN2, FÜR und ANSTECKEN.
Orientierungsgebärden sind ein Sonderfall von Richtungsgebärden. Bei Orientierungsgebärden übernimmt die Orientierung der Handform die Funktion, die bei Richtungsgebärden die Bewegungsrichtung hat. Z. B. weist bei SCHUTZ die Orientierung der Handfläche in die Richtung, aus der eine Gefahr droht. Damit wird sowohl der Ort als auch die Person beziehungsweise das Objekt, vor dem man sich schützen will, bestimmt. Einige Orientierungsgebärden werden auch mit einer kleinen Bewegung ausgeführt, die im Unterschied zu Richtungsgebärden jedoch auch wegfallen kann. Ein weiteres Beispiel im HLex ist GEGEN.
Alle Gebärden, die keine feste Ausführungsstelle (z. B. am Körper) haben, können an einer beliebigen Stelle im Gebärdenraum ausgeführt werden. Dazu gehören auch Zweihandgebärden, bei denen die nichtdominante Hand die Ausführungsstelle der dominanten Hand ist. Diese Gebärden können als Ganzes im Gebärdenraum positioniert werden. Damit wird entweder ausgedrückt, dass eine Tätigkeit an einem bestimmten Ort ausgeführt wird oder sich ein Objekt an einem bestimmten Ort befindet. Bei einigen Gebärden kann zusätzlich durch die Veränderung der Orientierung die Ausrichtung eines Gegenstands im Raum ausgedrückt werden (Beispiel: MIXER2B) Im HLex haben wir die Gebärden als Positionsgebärden ausgewiesen, die entweder im Korpus auf diese Weise modifiziert werden oder die in der Alltagskommunikation häufig an verschiedenen Orten im Gebärdenraum positioniert werden.
Körperbezogene Positionsgebärden sind ein Sonderfall der Positionsgebärden, die den Körperteil, an dem sie ausgeführt werden, in ihre Bedeutung mit aufnehmen. Z. B. kann die Gebärde OPERATION21 am Bauch oder am Arm ausgeführt werden, je nachdem, ob es sich um eine Bauchoperation oder eine Operation am Arm handelt. Ein Beispiel aus dem HLex ist REISSVERSCHLUSS.
Im Gegensatz zu den konventionellen Gebärden sind produktive Gebärden Formen, die für den jeweiligen Kontext spontan aus bestimmten Bausteinen und nach ikonischen Prinzipien zusammengestellt und neu gebildet werden.22 Diese Gebärden beruhen nicht auf einer durch Konvention festgelegten Form-Bedeutungs-Beziehung. Stattdessen nutzen produktive Gebärden die Möglichkeit, mit Handzeichen Bilder zu erzeugen und dem Geprächspartner durch diese Bilder Bedeutungen zu vermitteln. Die dargestellten Bilder müssen im jeweiligen Kontext interpretiert werden.
Zur Bildung produktiver Gebärden bedient sich der Sprachbenutzer bestimmter Bausteine (z. B. Handformen), die in der DGS zur Erzeugung solcher Bilder zur Verfügung stehen. Die Form und Anzahl dieser Bausteine ist sprachspezifisch und durch Konvention festgelegt. Die Bausteine selbst haben nur eine relativ weit gefasste, allgemeine Bedeutung. Diese abstrakte Bedeutung wird erst beim konkreten Gebrauch zu einer temporären Bedeutung für den jeweiligen Kontext spezifiziert. Diese kontextuelle Bedeutung ist wesentlich spezifischer als die Summe der allgemeinen Bedeutungen der Bestandteile einer produktiven Gebärde.
Die Bausteine werden nach bestimmten Abbildungsregeln und ikonischen Prinzipien zu einem Bild des wirklichen oder vorgestellten Geschehens/Gegenstands zusammengestellt. Dabei werden normalerweise die wesentlichen Aspekte des Geschehens fokussiert und abgebildet, während als unwichtig eingestufte Details weggelassen werden können. Das analoge Bildungsprinzip (im Wesentlichen bei Bewegung und Raumnutzung) hat zur Folge, dass z. B. eine Veränderung der Bewegung ein anderes Bild und damit eine andere Bedeutung erzeugt.
Da es sich bei produktiven Gebärden um Abbildungen der Wirklichkeit oder der vorgestellten Wirklichkeit handelt, weisen produktive Gebärden bestimmte Eigenschaften auf.
Produktive Gebärden sind immer ikonisch, da sie ein Bild verwenden, um Bedeutungen zu übermitteln. Sie sind meistens konkret auf einen Gegenstand oder Prozess bezogen. Die tatsächliche Form dieses Gegenstands ist entscheidend bei der Bild-Erzeugung. Da das allgemeine Bild einer produktiven Gebärde neu erzeugt wird, muss es mit einer spezifischen Bedeutung gefüllt werden, die in dem jeweiligen Kontext sinnvoll ist. Daher ist ihre spezifische Bedeutung auch nur in diesem Kontext verständlich.
Es gibt in der DGS verschiedene Techniken solche Bilder zu erzeugen. Je nachdem, welche Funktion die Hände und die Bewegung bei der Erzeugung des Bildes haben, kann man produktive Gebärden in verschiedene Gruppen einteilen. Im HLex werden vier verschiedene Gruppen produktiver Gebärden unterschieden:
Übernimmt die Hand des Gebärdenden die Rolle einer menschlichen Hand, die etwas tut, so ist sie ein Manipulator. Eine Hand kann darstellen, wie man einen Gegenstand festhält und/oder ihn bewegt oder wie sie in irgendeiner anderen Form mit Dingen der Welt interagiert. Die Bewegung, die bei der Tätigkeit, die dargestellt werden soll, vorkommt, wird im Wesentlichen von der Bewegung der Manipulator-Hand aufgenommen. Die Handform passt sich in der Regel der Form des Gegenstands, mit dem sie interagiert, an, kann aber auch auf eine konventionelle Art stilisiert sein (z. B. Münzhand für den Umgang mit dünnen, feinen Gegenständen). Manipulator-Gebärden stellen also eine Tätigkeit oder Handlung auch in der zeitlichen Dimension dar (bewegtes Bild). Man könnte sich eine Manipulator-Gebärde als eine Art kurzen Film mit einem menschlichen Akteur vorstellen.
Da das dargestellte Bild bzw. die dargestellte Handlung oder Tätigkeit leichter zu verstehen ist, sobald die Funktion der Hand als Manipulator erkannt wurde, haben wir uns in der Analyse von produktiven Gebärden mit Manipulator-Handformen auf die Analyse des Bausteines Hand beschränkt. Die Funktion und Bedeutung der Bewegung für das Bild lassen sich erschließen.
Ein Beispiel für eine Manipulator-Gebärde ist PROD.DRÜCKEN-BÜGELEISEN. Die Faust als Manipulator-Handform wird häufig dazu verwendet darzustellen, wie etwas z. B. an einem Griff festgehalten wird. In diesem Fall hält die Hand das Bügeleisen am Griff fest und drückt es nach unten.
Steht die Hand des Gebärdenden stellvertretend für einen Gegenstand, so hat sie die Funktion eines Substitutors. Häufig sind bei Substitutor-Handformen auch Formaspekte des dargestellten Gegenstands in die Form der Hand integriert. Die Lage, Anordnung, Orientierung und Bewegung der Hand im Gebärdenraum spiegeln (gegebenenfalls in verkleinertem Maßstab) die Lage, Anordnung, Orientierung und Bewegung des durch die Hand repräsentierten Gegenstands im realen Raum wider.24
Auch Substitutor-Gebärden stellen eine Situation oder einen Ablauf in der zeitlichen Dimension dar. Man könnte sich eine Substitutor-Gebärde als eine Art Trickfilm vorstellen, in der sich ein Gegenstand25 bewegt.
Auch bei dieser Gruppe von produktiven Gebärden reicht es aus, in der Analyse auf die Funktion der Hand als Stellvertreter für einen bestimmten Gegenstand hinzuweisen. Die anderen dargestellten Elemente des Bildes, z. B. die Bewegung, lassen sich erschließen.
Ein Beispiel für eine Substitutor-Gebärde ist PROD.EINTAUCHEN-GEGENSTAND. Die Krallenhand als Substitutor-Handform stellt einen kugelförmigen Gegenstand dar, in diesem Fall eine Tomate, die sich ins kochende Wasser senkt und wieder herauskommt.
Ein Bild kann auch dadurch erzeugt werden, dass ein Gegenstand in seiner Form und seiner räumlichen Ausdehnung und Lage mit einer oder mit beiden Händen in die Luft bzw. in den Gebärdenraum gezeichnet wird. Produktive Gebärden, die auf diese Weise entstehen, nennen wir skizzierende Gebärden (kurz Skizze). Die Handform wird jeweils so gewählt, dass sie bestimmte Formeigenschaften (z. B. Ausdehnung, Dicke, Umfang, Oberflächenform) des zu zeichnenden Gegenstands ausdrückt. Die Hand dient sozusagen als mehrdimensionales Zeichenwerkzeug, das bei seiner Bewegung im dreidimensionalen Raum eine imaginäre Spur hinterlässt. Durch die Bewegung werden weitere Formaspekte des Gegenstands sichtbar gemacht. Erst wenn die Bewegung abgeschlossen ist, ist das erzeugte dreidimensionale Bild im Raum fertig und der Gegenstand vor dem geistigen Auge erkennbar. Skizzen unterscheiden sich somit von anderen produktiven Gebärden dadurch, dass die Bewegungen der Hand zwar zur Erzeugung eines unbewegten Bildes dienen, jedoch nicht Teil der dargestellten Szene sind. Mit anderen Worten, nicht die Bewegung selbst, sondern nur das Bild, das als ihr Ergebnis entsteht, ist bedeutungsvoll. Skizzierende Gebärden beinhalten daher immer eine Bewegung, erzeugen jedoch stets ein unbewegtes Bild. Eine Beispiel für eine skizzierende Gebärde ist PROD.SPÜLKASTEN: Die Hände zeichnen einen kastenförmigen Gegenstand, in diesem Fall einen Spülkasten.
Einige wenige Grundhandformen werden in produktiver Weise dazu benutzt, die Ausdehnung oder Größe eines Objekts (Länge, Breite, Höhe) oder einen bestimmten Abstand anzuzeigen. Sie stellen lediglich die Begrenzungen dar, enthalten aber keine zusätzlichen Formaspekte des Objekts, wie dies z. B. bei Manipulator- oder skizzierenden Gebärden der Fall ist. Gebärden, die auf diese Weise produktiv gebildet werden, nennen wir maßanzeigende Gebärden (kurz Maß). Maßanzeigende Gebärden treten häufig ohne Bewegung auf, vor allem wenn sie in Kombination mit einem Mundbild zur Benennung des gemeinten Objekts verwendet werden.
Das einzige Beispiel einer maßanzeigenden Gebärde im HLex ist PROD.MESSERSPITZE20: Messer festhalten (linke Hand) und mit Daumen- und Zeigefinger geringe Menge einer Substanz auf der Messerspitze andeuten. Bei dieser Gebärde ist die linke Hand ein Manipulator, die rechte eine Maß-Handform.
Wenn eine Bewegung vorhanden ist, dann ist dies meistens eine kurze, abrupte Bewegung, die auf die intendierte Lokalität gerichtet sein kann. Eine weitere Funktion der Bewegung kann darin liegen, die Variationsbreite der räumlichen Ausdehnung eines Gegenstands oder seine allmähliche Ausdehnung anzuzeigen (z. B. die Füllmenge beim Dosieren von Waschmittel).
Bei der Identifizierung von Gebärden wurde neben Form und Bedeutung auch das einer Gebärde zugrunde liegende Bild mit berücksichtigt. Gebärden, die die gleiche Form haben und sich auf das gleiche Bild zurückführen lassen, wurden auf einer zweiten Glossenebene mit demselben Glossennamen gekennzeichnet (siehe Abschnitt Analyse konventioneller Gebärden). Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass es im vorliegenden Gebärdenverzeichnis erheblich weniger Verweise auf formgleiche Gebärden gibt als im Fachgebärdenlexikon Tischler/Schreiner, da bei dieser Zuordnung die Konventionalität von Gebärden nicht berücksichtigt wurde.
Wörter zu vergleichen, die gleich oder ähnlich lauten, scheint wenig sinnvoll, denn es gibt keine gemeinsame Ebene, auf der sich das Verhältnis von Form und Bedeutung verschiedener Wörter zueinander in Beziehung setzen lässt. Die Ähnlichkeitsbeziehungen sind rein zufällig. Gebärden jedoch sind in vielen Fällen in ihrer Form gleich oder ähnlich, da sie sich auf ein gleiches oder ähnliches Bild beziehen, das im gegebenen Kontext dazu benutzt wird, eine bestimmte Bedeutung auszudrücken.
Genauso wie es im Deutschen Wörter gibt, die gleich lauten, aber etwas Unterschiedliches bedeuten, z. B. Schloss ("Türschloss" oder "Gebäude"), gibt es auch in der DGS Gebärden, die formgleich sind, d. h. in den Parametern Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung übereinstimmen. Im Unterschied zu Gebärden werden durch Laute jedoch keine Bilder hervorgerufen.26 Die Identifikation von Gebärden beruht auf dem Vergleich von Gebärden hinsichtlich Form, ikonischem Gehalt und Bedeutung. Die sich daraus ergebenden Beziehungen zwischen Gebärden, die nicht schon durch die Transkriptionskonventionen festgehalten wurden, sind in Form von Verweisen in der Datenbank angelegt. Wir halten die Dokumentation von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Gebärden für ein wichtiges Element der lexikographischen Beschreibung, sind uns jedoch bewusst, dass dies nur ein erster Versuch sein kann, die Vielschichtigkeit der lexikalischen Struktur einer Gebärdensprache angemessen zu beschreiben.
Im vorliegenden Gebärdenverzeichnis gibt es bei 391 Gebärden Verweise auf andere formgleiche oder formähnliche Gebärden. Zu jedem Verweis steht ein kurzer Text, der die Art der Beziehung zwischen zwei Gebärden mit Bezug auf das ihnen zugrunde liegende Bild angibt.
Bei formgleichen Gebärden kann das Bild verschieden sein wie z. B. bei WEICH1B (Bild: etwas Weiches zwischen den Fingern zusammendrücken) und FÜHLEN2A (Bild: mit den Fingerspitzen fühlen). WEICH1B wird konventionell mit der Bedeutung "weich" und "Schwamm" verwendet, FÜHLEN2A mit der Bedeutung "feucht" und "trocken". Es handelt sich in diesem Fall um homonyme Gebärden.
Bei BRATEN2 (Bild: Pfanne am Stiel festhalten und rütteln) und HEIZUNG1 (Bild: Rost eines Kohleofens rütteln) sind die Bilder nicht verschieden, sondern weisen gemeinsame Bildmerkmale (etwas festhalten und hin- und herbewegen) auf. Gebärden mit einer Manipulator-Handform sind sich darin ähnlich, dass das Festhalten eines Gegenstands typischerweise mit der Faust oder der Zügelhand dargestellt wird. Es wurde jedoch nur dann ein Verweis eingetragen, wenn noch weitere gemeinsame Merkmale hinzukommen.
Ein Beispiel für formähnliche Gebärden, die sich auf ähnliche Bilder zurückführen lassen sind VORRAT (Bild: etwas in einen Behälter oder in ein Fach stecken) und INHALT (Bild: etwas wird in etwas anderes gesteckt oder befindet sich darin). Die Entscheidung, ob es sich um ähnliche Bilder oder nur um gemeinsame Bildmerkmale handelt, bleibt im Einzelfall problematisch und hängt davon ab, auf welcher Abstraktionsebene man die Bilder vergleicht.
Einige Gebärden unterscheiden sich nur geringfügig in der Form, beruhen jedoch auf demselben Bild wie z. B. SPIEGEL und SILBER3 (Bild: eine Fläche reflektiert die Lichtstrahlen).
SCHRUMPFEN (Bild: etwas zieht sich zusammen, schrumpft oder wird kleiner) und AUFGEHEN-MASSE1 (Masse dehnt sich aus und wird größer) stellen zwei entgegengesetzte Vorgänge dar, das Bild der einen Gebärde wird bei der anderen umgekehrt verwendet.
Bei formgleichen und formähnlichen Gebärden, bei denen wir das Bild einer Gebärde nicht erschließen konnten, haben wir dies gekennzeichnet mit dem Zusatz "Bild unklar".
Die Verweise sind nicht erschöpfend. Bei formähnlichen Gebärden, die sich auf verschiedene Bilder zurückführen lassen, wurde kein Verweis eingetragen, da es sich in diesen Fällen wie bei Wörtern um zufällige Ähnlichkeiten in der Ausführung der Gebärden handelt, die nicht durch das Bild motiviert sind. Des Weiteren wird nicht auf Ausführungsvarianten oder Modifikationen einer Gebärde verwiesen, da die Beziehung dieser Gebärden untereinander schon durch die Glossierung wiedergegeben wird.