KIGSE

(Kinder im Gebärdenspracherwerb)


Projektleitung: Prof. Dr. Siegmund Prillwitz, Eva Pruss Romagosa
Mitarbeiterinnen: Antonie Weiß, Margarita Navas Zienert, Simone Fourestier, Rosemarie Albrecht, Britta Harms, Ivo Weber, Satu Worzeck

Kontaktadresse:
Eva Pruss Romagosa
Institut fuer Deutsche Gebaerdensprache
Universitaet Hamburg
Gorch-Fock-Wall 7
D-20354 Hamburg
Fon: +49 40 42838 6730
Fax: +49 40 42838 6109
Email:Eva.Pruss.Romagosa@sign-lang.uni-hamburg.de


GEBÄRDENSPRACHE ALS ERSTSPRACHE
Von Eva Pruss Romagosa
Aus "DGS Grundkurs 2" (in Vorbereitung)

Gehörlose gehören zweifelsohne überall zu einer Gruppe, die sich mit mindestens zwei Sprachen auseinandersetzen muss, die eine ist die dominierende Lautsprache und die andere ist die der gehörlosen Minderheit, die Gebärdensprache. Bei Kindern fängt diese Auseinandersetzung bereits früh an, die Familienmitglieder sind meist hörend, auch die KindergärtnerInnen, LehrerInnen, später dann die KollegInnen usw. werden hörend sein.

Nur 10 % der gehörlosen Kinder erwerben Gebärdensprache auf einem vergleichbar natürlichen Wege wie hörende Kinder die Lautsprache erwerben. Der größte Teil der gehörlosen Kinder, nämlich 90% hat hörende Eltern, die mit der nationalen Gebärdensprache nicht vertraut sind und für die das Erlernen einer weiteren Sprache auch eine Herausforderung ist. Falls die Familienangehörigen keine Gebärdensprache lernen und auch kein weiterer Kontakt zu anderen Gehörlosen besteht, ist es meist so, dass die Kinder erst mit dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule mit der Gebärdensprache in Berührung kommen. Dies geschieht dann aber auch nicht unbedingt auf systematischem Wege innerhalb des Unterrichts, sondern hauptsächlich in den Pausen oder in der Freizeit. In den meisten Schulen in Deutschland wird die DGS nicht eingesetzt, und in nicht wenigen Fällen sogar behindert. Der kleine Prozentsatz von gehörlosen Kindern, die Gebärdensprache als Erstsprache durch ihre gehörlosen Eltern erworben haben, hat hier eine wichtige Multiplikatorfunktion, indem diese Kinder die in der Gehörlosengemeinschaft benutzte Gebärdensprache an die anderen weitergeben.

In den USA hat man vor ca. 30 Jahren begonnen, sich für den Erwerb von Gebärdensprachen zu interessieren und auch in Europa wächst das Interesse an diesem Thema stetig. In vielen Studien der letzten Jahrzehnte konnte gezeigt werden, dass der Erstspracherwerb einer Gebärdensprache dem einer Lautsprache in nichts nachsteht (zur Übersicht Lillo-Martin 1999 und Newport & Meier 1985).

Im Folgenden skizziere ich einige Ergebnisse:

- Gehörlose Kinder haben ebenso wie hörende Kinder eine so genannte Lallphase, die mit ca. 6 Monaten einsetzt. Alle Kinder, auch gehörlose, lallen ungeachtet der Sprache, die sie umgibt. Erst ab ca. dem zehnten Monat fängt das gehörlose Kind zunehmend an, manuell zu babbeln, und verwendet, ebenso wie es bei hörenden Babys der Fall ist, mehr und mehr Silben, die mögliche phonetische Einheiten in der jeweiligen (Gebärden)-Sprache darstellen.

- Die ersten Gebärden: Dieses Gebiet ist natürlich von großem Interesse und hat viele Studien hervorgebracht. War man früher der Ansicht, dass gehörlose Kinder früher als hörende Kinder die ersten Worte, die ersten Gebärden produzieren, wurden in weiteren Studien strengere Maßstäbe gesetzt, was die Unterscheidung zwischen Gesten und ”richtigen” Gebärden anbetrifft. Auch hier gab es keine signifikanten Unterschiede bei der sprachlichen Entwicklung zwischen hörenden und gehörlosen Kindern: Die Studien ergeben ein Durchschnittsalter von zwölf Monaten, in denen die ersten referentiellen Gebärden auftauchen und bis zum 19 Monat produzieren hörende sowie gehörlose Kinder ca. 50 Wörter bzw. Gebärden.

- Zwei-Gebärden-Sätze setzen mit ca. 1 1/2 Jahren ein: Wie bei hörenden Kindern finden wir in dieser Phase noch keine grammatikalische Morphologie

- Pronominalsystem: Ein viel zitiertes Beispiel, das immer wieder verblüfft, aber deutlich macht, dass die Spracherwerbsprozesse ungeachtet ihrer Modalitäten nach den gleichen Mustern verlaufen, ist das folgende: Das 2-jährige Kind meint ”ich” und sagt ”du” und umgekehrt, bis es verstanden hat, dass ”ich” und ”du” abhängig von der Person sind, die gerade spricht. Bei gehörlosen Kindern verhält es sich genauso: Sie gebärden ”DU” und meinen sich selbst und ”ICH” und meinen ”DU”. Auch diese Gebärden werden offensichtlich als abstrakte Formen behandelt.

- Kongruenzverben erwirbt das Kind entgegen vieler früheren Annahmen morphemisch und nicht als ein ganzes, gar ikonisches Bild. Man könnte meinen, dass die Bildhaftigkeit z.B. in dem gebärdeten Satz ”Du gibst mir”, in dem die Hand bei der Gebärde GEBEN von der zweiten Person zur ersten bewegt wird, dem lautsprachlichen Wort aufgrund der Sichtbarkeit im Vorteil wäre und daher als Ganzes erworben wird. Jedoch haben die bisherigen Untersuchungen gezeigt, dass Kongruenzverben auch von gehörlosen Kindern nicht vor 2 1/2 Jahren erworben werden.

Zusammenfassend stellen die bisherigen Studien fest, dass Gebärdensprachen in gleicher Weise wie Lautsprachen erworben werden. Gebärdensprache und Lautsprache werden also je nach Phase, Schritt für Schritt nach einem Etappenplan erworben

Wie aber sieht es aus, wenn nicht die Kinder gehörlos sind, sondern die Eltern? Sollen die gehörlosen Eltern mit ihren hörenden Kindern gebärden? Die Antwort ist JA!

Hier haben wir es dann mit einer bilingualen Situation zu tun, die mit der von Eltern, die z.B. zwei verschiedenen Lautsprachen sprechen, absolut vergleichbar ist. Kinder erwerben die Sprachen, die ihre Eltern ihnen anbieten, ganz von selbst. Sie werden die Sprachen anfangs mischen und bis zum Alter von zweieinhalb Jahren getrennt haben.

Das Mischen der Sprachen ist also ganz normal, denn alle Kinder, die zwei oder mehr Sprachen erwerben, mischen diese zunächst, vor allem in den frühen Phasen des Spracherwerbs. Das heißt aber nicht, dass diese Kinder ständig und ohne Unterschied die Sprachen mischen, und niemals eine einsprachige Äußerung von sich geben. Eher geschieht dies systematisch, so dass Kinder ohne Probleme in der Lage sind, die grammatischen Systeme zunehmend zu unterscheiden, wenn sie beginnen, die spracheigenen Eigenschaften zu nutzen.

Aus soziolinguistischer Sicht erwirbt das Kind nicht nur zwei Sprachsysteme, sondern - allgemeiner gesprochen - kommunikative Kompetenz in zwei (oder mehreren) Sprachen. Das bedeutet, das Kind erwirbt nicht nur grammatikalisches Wissen, sondern auch ein Wissen darüber, welche Sprache der Kommunikationssituation angemessen ist. Mit ”angemessen” meine ich, dass die passende Sprache in der jeweiligen sozialen Gruppe, in der jeweiligen Familie bis hin zu jeder einzelnen Konversation verwendet wird. Diese kommunikative Kompetenz lernt das Kind nicht durch linguistische Formen, sondern durch soziale Interaktionen. Sie wird umso einfacher erworben, je klarer die Eltern mit ihrer Sprache umgehen.

Um einen aktiven Bilingualismus möglich zu machen, sind die Strategien der Eltern entscheidend, wie sie ihre eigenen Sprachen in der alltäglichen Kommunikation verwenden und dies umso mehr, wenn es sich um die Sprache einer Minderheit handelt. So ist man in der Bilingualismusforschung zum Ergebnis gelangt, dass je eindeutiger eine Person bei ihrer Sprache bleibt, es umso einfacher für das Kind ist, zu wissen welche Sprache zu welcher Person gehört, nach dem Motto: eine Person - eine Sprache. Wenn es sich hierbei noch um eine Sprache einer kleinen Sprachgemeinschaft handelt, ist es umso wichtiger, dass der/die SprecherIn/ Gebärdende, eindeutig mit ihrer Sprache umgeht. Eine Situation, die es auch in vielen anderen Minderheitensprachen gibt.

In unserem Falle ist der direkte Kontakt mit gebärdenden KommunikationspartnerInnen umso wichtiger, weil das Kind ja ansonsten von der Umgebung kaum einen Einfluss erhält: Gebärden sind nur selten in den Medien, in Büchern und in der Umgebung zu finden. Somit ist die persönliche Umgebung der Kinder die einzige Quelle für Gebärdenspracherwerb.

Über den direkten Einfluss des so genannten Inputs bei hörenden Kindern von gehörlosen Eltern gibt es mehrere Untersuchungen, die zeigen, dass hörende Kinder schon ab einem Alter von zweieinhalb in der Lage sind, sich in der Sprache an die jeweiligen Gesprächspartner zu wenden, die der/diejenige bevorzugte. So wechseln sie von Lautsprache in Gebärdensprache je nachdem, an wen sie sich richten. Gehörlose Eltern sind diejenigen, die die Familiensprache im wahrsten Sinne des Wortes ´in der Hand‘ haben: Wenn sie in ihrer eigenen Gebärdensprache mit ihren Kindern kommunizieren, werden sie dazu beitragen, ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen zu lassen und vermeiden auf diese Weise hausgemachten Sprachbarrieren. Übrigens ist Mehrsprachigkeit eine Situation, die die Mehrheit der Menschheit betrifft.

Ob gehörlose Kinder gehörloser Eltern, gehörlose Kinder hörender Eltern oder hörende Kinder gehörloser Eltern, für alle gilt, dass sie fähig sind, Sprachen zu erwerben, unabhängig von der Modalität - einzeln, gleichzeitig oder nacheinander - man muss sie nur lassen.

Quellen und empfohlene Literatur zum Thema:

(Stand: 21.7.2000)

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